Süddeutsche Zeitung

Oper:Wie im richtigen Leben

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Der Regisseur Bernd Mottl hat für das Staatstheater am Gärtnerplatz eine aufregende "La Bohème" inszeniert. Großartige Darsteller und ein hervorragendes Orchester tun ihr Übriges dazu

Von Andreas Pernpeintner

Einige Sekunden der Besinnung sind erforderlich, bevor man sich am Ende der "La Bohème"-Premiere auf den Applaus einlassen möchte, der im Gärtnerplatztheater aufbrandet. Denn so bewegend stirbt Mimì nicht oft - nicht, weil hier ein besonders zartes Pflänzchen dahinwelken würde, sondern weil eine Frau aus dem echten Leben gerissen wird.

Dem Gärtnerplatz-Ensemble glückt eine beeindruckend ausdrucksstarke "Bohème", und großen Anteil daran hat die Inszenierung von Bernd Mottl. Im Grunde genommen erzählt er eine klassische "Bohème" - nur, dass er sie in die heutige Welt versetzt: WG statt Dachkammer, Nachtclub statt Café. Sicherlich, das bringt Ungereimtheiten mit sich: Wenn sich die Intellektuellen-Gang um Marcello und Rodolfo mit Tablet-Computern vergnügt, Fastfood-Fritten um sich schmeißt und modisch einwandfreie Punker- oder Skater-Ausstattung trägt, aber das Pathos früherer Bettelstudenten pflegt, entsteht eine gewisse Schieflage. Auch die Sprache des Librettos passt nicht immer zu den jugendlichen Menschen auf der Bühne.

Trotzdem geht das Konzept auf, denn der stärkste Effekt funktioniert absolut: Mottl löst die historische Distanz zum Bühnengeschehen auf. Das ist keine Geschichte aus karger Zeit, deren eisiger "Nordwind" einen kalt lässt, das ist echtes Leben von nebenan. Der Grundgedanke ist gut. All die Graffiti auf der Bühne beispielsweise sind nicht bloßes Suggestionsmittel zur zeitlichen Transformation, sie entspringen der Handlung: Der Künstler Marcello bemalt in dieser Inszenierung keine Leinwände, er besprüht Wände. Er ist es also, der gewissermaßen für die Ästhetik des Bühnenbilds von Friedrich Eggert verantwortlich ist. Dieser Kniff ist eine elegante Aufwertung der Rolle - die dazu passt, dass Bariton Matija Meić als Marcello vor der Pause die stimmlich überzeugendste männliche Partie singt.

Was das visuelle Erlebnis aber vor allem eindrücklich macht, sind die plakativen Farbkontraste. Alles am Bühnenbild ist Schwarz-Weiß. Wände, Graffiti, Möbel, der Schnee vor pechschwarzem Hintergrund. Aber die Menschen, die sind kreischend bunt. Und sie werden von Bernd Mottl mit Lust in Bewegung versetzt. Das gilt natürlich besonders für das stark bevölkerte zweite Bild, in dem Chor und Kinderchor, Solistenensemble und Marschkapelle eine ausgelassen überzeichnete Nachtclub-Szene auf die Bühne bringen - einschließlich herrlich skurriler Nebenschauplätze wie dem als Christbaum erscheinenden Parpignol. Hauptperson dieser Sause aber ist Mária Celengs Musetta, die als flotter Paradiesvogel auf dem Bartresen einen Coyote-Ugly-Auftritt hinlegt, dem ihr Ex Marcello keine männlichen Abwehrkräfte entgegensetzen kann. Fast entsteht zu diesem Zeitpunkt das Gefühl, Musetta und Marcello wären markantere Handlungsträger als Camille Schnoors Mimì und Lucian Krasznecs Rodolfo. Krasznec nämlich ist es nicht ganz gelungen, den liebestrunkenen Gesangspassagen im ersten Bild, bei denen einem nach wie vor ein weltberühmt dickleibiger Tenor als Referenz im Kopf herumgeistert, melodischen Fluss zu verleihen. Das Gärtnerplatzorchester, das unter der Leitung seines Chefs Anthony Bramall das musikalische Geschehen über den gesamten Abend hinweg hervorragend prägnant vorantreibt, sang hier noch schöner. Doch je schlechter es Mimì gesundheitlich geht, desto stärker wandelt sich der Eindruck. Es ist bemerkenswert, mit welch sängerisch unprätentiöser Anmut Camille Schnoor im dritten Bild die Mimì in den Mittelpunkt rückt, und auch Krasznec hat nun jegliche gesangliche Beklemmung abgelegt. Vor allem aber ist es sein darstellerisches Vermögen, das das Finale dieser Oper prägt. Mimìs Sterben schauspielerisch derart aussagekräftig zu begleiten wie Krasznec, ist nicht selbstverständlich. Großartig.

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Quelle:
SZ vom 30.03.2019
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