Süddeutsche Zeitung

Oper:Beschaulichkeit im Kosmos der Gefühle

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John Eliot Gardiner leistet einen fulminanten Auftakt mit Glucks Reformoper "Orphée et Eurydice" am Royal Opera House in London.

Von Helmut Mauró

Christoph Willibald Glucks "Orphée et Eurydice" aus dem Jahr 1774, also die Pariser Fassung seines "Orfeo", bildet den furiosen Auftakt zu einer Reihe von ambitionierten Neuproduktionen des Londoner Royal Opera House Covent Garden, die dem Orpheus-Mythos vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart gewidmet sind. Für den Gluckschen "Orphée" hat man sich etwas Spezielles überlegt und eine Regie-Doppelspitze arrangiert mit dem Regisseur John Fulljames, Mitglied des Royal Oper House, und dem Choreografen Hofesh Shechter. Der gestaltet nicht nur die für Paris ergänzten Ballette, sondern begleitet auch innerhalb der Oper einige Szenen mit ausdrucksstarken Tanzgebärden.

Das ist zwar nicht ganz neu - zuletzt hat dies der genialische marokkanisch-belgische Tänzerchoreograf Sidi Larbi Cherkaoui in Wagners "Rheingold" für Berlin und Mailand eindrucksvoll umgesetzt -, aber es ist auch nicht so geläufig, dass man es als Routine empfinden könnte. Im Gegenteil. Shechter, der in Jerusalem in der von Martha Graham und Batsheva de Rothschild gegründeten Batsheva Dance Company tanzte und in Paris studierte, leitet seit 2008 seine eigene Hofesh Shechter Dance Company, er choreografierte nebenbei auch schon für das Royal Ballet. Bei seinem Debüt am ehrwürdigen Royal Opera House musste er sich nun, anders als in seinen furiosen Tanzstücken, dem Diktat der Gluckschen Reformoper unterwerfen.

Und die verlangt weniger sportlich-aggressiv ausgestellte Leidenschaft als vielmehr eine konzentrierte Hochspannung, die nach innen gerichtet ist und sich nach außen zu lyrischen Kraftakten formt.

Eine Konstellation, die einem aktionistischen Ballett entgegensteht. Shechter setzt zunächst darauf, die Bewegungsabläufe trotz hektischer Abläufe eher gleichförmig im Einklang mit der Musik zu konzipieren, um sie dann mit ein asynchronen Gegenbewegungen aufzulockern. Anfangs gerät dies noch sehr schlicht, mit zaghaftem Auf-der-Stelle-Hüpfen, Arme-Heben und viel unvermitteltem Innehalten der momentanen Körpergeste.

Selbst die furiosen Tanznummern sind auf die Musik als treibende Kraft ausgerichtet

Man liest unweigerlich auch ursprüngliches Ausdruckstanzvokabular heraus, weit ausgreifende Schritte, die Arm-Symbolik, demonstrative Bodenhaftung - allerdings in hektischer Hochgeschwindigkeit: Mary Wigman auf Speed. Später sieht man ausgefeiltere Choreografien auf der Basis zweier bis dreier divergierender rhythmischer Muster und geteilter Tanzgruppen. Das bedeutet: eine mehrschichtige Umsetzung der emotionalen Situation der Protagonisten, nicht nur der Vollzug der rhythmischen Gegebenheiten der Gluckschen Partitur.

Die rohen Tanzgebärden stehen nun gegen die elaborierten und geordneten, musterhaften; in der Schlussnummer obsiegen kulturpessimistisch die Wilden, die schon vorher auf allen Vieren über die Bühne springen. Aber selbst jetzt weiß sich die Musik so nachdrücklich in Szene zu setzen, dass man staunt, wie sie noch 240 Jahre nach ihrer Komposition so unmittelbar berühren kann. Orchester und Dirigent John Eliot Gardiner leisten das Ihrige, vor allem der herausragende Monteverdi Choir. An vielen Stellen spürt man sehr deutlich die Euphorie des Komponisten, mit dieser Oper ein neues Zeitalter musiktheatralischen Ausdrucks einleiten zu können.

Gluck wollte weg von den alten Nummernopern aus trockenen Erzählrezitativen, nur vom Cembalo begleitet, und aufgeplusterten Da-Capo-Arien, die sich vom Erzählstrang lösen. Er wollte hin zu einer natürlicheren, also menschlicheren Darstellungsweise aus individueller Gefühlswelt, chorischer Sozialisation und orchestral ummantelnder Grundstimmung.

Folglich lässt er die Rezitative vom ganzen Orchester begleiten und verzichtet auf die komplette Wiederholung, fügt alles in einen Erzählfluss. Gardiner greift mit seinen English Baroque Soloists diese Idee des erlebten Dramas auf, es gelingen ihm im Detail mitreißende orchestrale Dramen, dafür bleibt er die unerhörte Farbigkeit des Gluckschen Orchesterkosmosschuldig.

Auch wenn das gesamte Ensemble mittels Hebebühne mehrmals auf- und niederfährt, die musikalische Aktion bleibt beschränkt, es gibt auch kein nennenswertes Bühnenbild, das davon ablenkt. Selbst die furiosen Tanznummern sind auf die Musik als treibende Kraft ausgerichtet. Manchmal aber schafft es Gardiner dann doch, Glucks wenig sentimentale, edle Melancholie in ein unkitschig schlichtes, flüssiges Melos zu verwandeln. Er lässt das Orchester dabei recht unaufgeregt durch den Abend ziehen. In den Ballettnummern, die wie angeklebte Fremdkörper wirken, prallen dann Tänzeraktionismus und musikalische Beschaulichkeit aufeinander.

Die ursprüngliche Fassung für Wien von 1762 sieht ja noch keinerlei Tanzszenen vor, erst für die Pariser Aufführung 1774 musste Gluck elegantes Bewegungstheater liefern. Andererseits eignet sich das Libretto von Ranieri de Calzabigi, das auf Ovids Metamorphosen beruht, hervorragend für eine tänzerische Darstellung.

Orpheus, der mit seinem Gesang die Götter betört und die Hades-Wächter, der schließlich seine Frau Euridice aus dem Todesreich zurückholen darf unter der Bedingung, sich dabei nicht nach ihr umzudrehen. Was tragisch misslingt und opernhaft künstlich wieder zum Guten gewendet wird.

Man darf nur nicht, wie es Choreograf Shechter dann doch öfter versucht, den Tanz gegen den Gesang und die Bühnendarstellung richten. Zumal, wenn ein so ambitionierter Tenor wie Juan Diego Florez mit dem Orfeo sein Rollendebüt gibt und sich als einer der führenden Operntenöre behaupten und in Erinnerung rufen will. Das gelingt ihm auch, wenngleich die helle, metallische Stimme eines eher heldischen Tenors nicht sehr passend wirkt für die Rolle des Orfeo. Man hat ihn als Paradebesetzung eines lyrischen Tenors im Gedächtnis.

Gluck hat die Partie für einen Altkastraten geschrieben, wenn man sich die jüngste, wunderbar farbenreiche Aufnahme mit dem Countertenor Franco Fagiolian anhört oder auch die von Hartmut Haenchen mit Jochen Kowalski, dann käme man nicht auf die Idee, den Orfeo mit einem durchschlagskräftigen Tenor zu besetzen.

Genau dies hat aber schon Gluck getan, als er für Paris eine Alternative für den dort unüblichen Kastratengesang finden musste. Florez ist sich dieser historischen Tatsache offenbar sehr bewusst und spielt seine Fähigkeiten als tenoraler Strahlemann voll aus; wenngleich er die Höhe wie immer etwas pressen muss.

Die salomonische Lösung für das Alt-Counter-Tenor-Problem gibt es leider nur im Trailer auf der Website der Royal Opera: Ein Tänzer doubelt Florez und demonstriert dabei keineswegs unverbrüchliches Selbstbewusstsein, sondern wendet sich nach innen, krümmt sich, sinkt zu Boden, stellt die Zerbrechlichkeit des Menschen in dieser Situation aus. Und das wirkt noch stärker als der Gesang allein.

Die unaufgeregteste und passendste Besetzung war die Euridice der englischen Sopranistin Lucy Crowe, die klar und sicher ihre Partie mit dem nötigen Ausdruck beherrschte und in der großen Klage-Arie am Ende auch mitzureißen verstand. Für den in die Jahre gekommenen Amor im goldenen Anzug allerdings, verkörpert von der amerikanischen Sopranistin Amanda Forsythe, hätte man vielleicht auch eine geeignetere Besetzung finden können. Insgesamt aber brachte die Produktion viel Freude und Ergriffenheit in das Königliche Opernhaus.

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Quelle:
SZ vom 18.09.2015
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