Süddeutsche Zeitung

Neue Klangwelten:Die Gesangsgruppe "Graindelavoix"

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Von Helmut Mauró

Dieses Ensemble hat nicht nur ein bisschen frischen Wind in die Renaissance-Musik gebracht, sondern einen veritablen Sturm entfacht. Die belgische Gesangsgruppe Graindelavoix bricht hart mit der keimfreien Ästhetik konventioneller Kirchenchöre und sucht nach dem lebendig glühenden Kern der Musik. Dazu sind auch Sänger willkommen, die aus Gesangstraditionen des Mittelmeerraumes stammen. Und auf einmal blitzen da Klänge auf, gurrende Bässe und emotionsgeladene Oberstimmen, dass einem die Ohren klingen. Björn Schmelzer, der Leiter von Graindelavoix, geht dabei zwar nicht so weit wie das ähnlich ambitionierte Ensemble La Tempête in ihrer spektakulären Aufnahme von Monteverdis Marienvesper, aber er zeigt sich dem Komponisten Gesualdo, dessen Schattenmusik die neue CD gewidmet ist (Gesualdo: Tenebrae; bei Glossa Platinum), doch recht wesensverwandt. Der Renaissancekomponist Gesualdo entstammte zwar italienischem Hochadel, blieb aber zeitlebens ein Rebell. Künstlerisch ging er eigene Wege, legte größten Wert auf die perfekte Beherrschung der Vokalpolyphonie, die zu seiner Zeit ihren Höhepunkt schon überschritten zu haben schien. Gesualdo führte vor, ähnlich wie später Bach, dass eine komplexe Form und strenge Regeln höchst vielfältige, inspirierte Kunst hervorbringen können. Dazu muss man nicht nur out of the box denken, sondern auch die box beherrschen. Das gilt ein wenig auch für den Hörer. Doch dann reißt da ein Himmel auf, den man vorher nicht kannte. Da umschlingen sich Bass und Sopran immer enger und die Mittelstimmen drängen sie wieder auseinander und immer so fort. Das Ganze ist ein komplizierter Prozess, hier fließt alles natürlich und ist doch in zeitversetzten Wiederholungen der einzelnen Stimmen so ornamental verknotet, dass man wie in einer Kathedrale steht und viel staunt. Es ist die Balance von Verstehen und Überwältigtwerden. Sofern die Hörer offen sind für eine fremdartige Klangwelt. In der schwingt noch mittelalterliche Mystik mit, gemischt mit Klangopulenz und virtuoser Tonarchitektur. Unterhaltungsmusik ist das nicht, sie drängt zur Kontemplation, zur Meditation. Sie erwächst aus absoluter Stille und führt dorthin zurück.

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Quelle:
SZ vom 18.04.2020
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