Süddeutsche Zeitung

Netzkolumne:Zuschauen, ohne zu zahlen

Lesezeit: 2 min

Netflix war ein Gewinner der Corona-Epidemie. Jetzt aber sinkt die Zahl der Abos. Auch, weil viele dieser Nutzeraccounts immer öfter geteilt werden.

Von Michael Moorstedt

Die Corona-Lockdowns waren, so zynisch das auch sein mag, wohl das Beste, das Netflix je passieren konnte. Auf sich selbst zurückgeworfen war das soziale Lagerfeuer des Streaminganbieters eine der wenigen Wärmequellen in unerhörten Zeiten. Aber nach den Öffnungen hatten alle schlichtweg Besseres zu tun, als noch eine Minute länger vor Bildschirmen zu verbringen. So schrumpfte die Zahl der Abonnenten erstmals. Und dann gibt es da noch ein anderes Problem: Mehr als hundert Millionen Menschen, so eine unternehmensinterne Schätzung, schauen zu, ohne zu bezahlen.

Das Teilen von Nutzeraccounts ist längst ein Phänomen, das sich durch alle Gesellschaftsschichten zieht. Man benutzt den Netflix-Zugang der Nachbarn, mit denen man sonst im Treppenhaus kaum mehr als ein Grunzen wechselt, Eltern geben ihren groß gewordenen Kindern das Prime-Passwort mit an den Start ins Leben, und Ex-Eheleute haben, auch Jahre nach der Scheidung und nach bitteren Kämpfen, immer noch den gleichen Spotify-Account, um getrennt voneinander die bittersüßen Songs von einst anzuhören.

Oft genug kommt es auch vor, dass man den Originalinhaber überhaupt gar nicht kennt. Das weitläufige Teilen der Nutzerzugänge ist mittlerweile zur anerkannten kulturellen Praxis geworden, die nach dem Motto "Wo kein Kläger, da kein Richter" funktioniert. Ein Kavaliersdelikt eben, ganz so, wie man früher beim Warten auf den Bus dem Stummen Verkäufer eine Zeitung entnommen hatte und sie nach ein paar Minuten des Lesens mehr schlecht als recht gefaltet zurücklegte.

Dabei ist die Weitergabe des Spotify- oder Netflix-Passwortes ja eigentlich eine ungemein intime Angelegenheit. Medienkonsum und Serien-Bingewatching ist heutzutage Teil der Persönlichkeit, und man läuft Gefahr, dass durch das parasitäre Publikum die sorgfältig kuratierte Fantasy- und Science-Fiction-Playlist durch algorithmische Empfehlungen für romantische Komödien sabotiert wird.

Die Firma, die das Fernsehen bis vor Kurzem noch verdrängen wollte, erfindet es jetzt einfach neu

Einmal bezahlen, dann besitzen - das ist ein Geschäftsmodell aus der Vergangenheit. Nicht nur Filme und Serien, sondern auch Videospiele und andere Software werden immer häufiger in Abo-Form angeboten. Subscription Economy nennen das die Marktbeobachter, und Trendforscher und munkeln, dies sei der kommende Boommarkt. Dementsprechend lassen sich heute bereits Naturkost, Rasierapparate, Unterhosen oder Spielzeug per Abo bestellen. Was mehr Kundenfreundlichkeit und eine bessere Individualisierbarkeit verspricht, führt in der Realität freilich eher dazu, dass die Kunden bald ein Haufen ungenutztes Zeug zu Hause rumstehen haben.

Wenn aber alles ein Abo ist, dann ist es nur folgerichtig, dass für diese Dienstleistung auch ein sekundärer Markt entsteht. Und so ist es eher verwunderlich, dass es bis vor wenige Wochen gedauert hat, bis ein findiger Unternehmer genau diesen Marktplatz anbietet. Auf der Plattform Gowd bieten die User Zugang zu ihren mehr oder weniger genutzten Abos an, freilich gegen eine Gebühr. Wenn man sich durch die Website klickt, sieht man alle nur denkbaren Abos im Angebot, von Sprachlernprogrammen über Programmierschulen über wöchentliche Lebensmittellieferungen hin zu VPN-Software oder Comicbibliotheken , auch diverse Porno-Plattform dürfen nicht fehlen. Meist verlangen die Verkäufer nicht mehr als einen Dollar für ihren Zugang.

Natürlich ist auch Netflix im Angebot. Das Unternehmen hat übrigens angekündigt, ab dem kommenden Jahr dem fröhlichen Teilen der Zugänge ein Ende setzen zu wollen. Außerdem will man ein noch günstigeres Abo anbieten, in dem Werbung geschaltet wird. Die Firma, die das Fernsehen bis vor Kurzem noch verdrängen wollte, erfindet es jetzt einfach neu.

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