Süddeutsche Zeitung

Nachruf auf Nelson Freire:Unbestechliche Instanz

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Dieser untrügliche Sinn für pianistische Präsenz, die sich nie wichtigtuerisch vor die Musik drängte: Zum Tod des großen Pianisten Nelson Freire.

Von Harald Eggebrecht

Wer wissen wollte, was es heißt, Kraft in klingende Energie umzusetzen, Temperament in virtuosen Glanz zu verwandeln, Beweglichkeit in Eleganz aufgehen zu lassen, der konnte es bei dem großen Pianisten Nelson Freire aus Brasilien staunend und mitreißend erleben. Wenn er Musik von Frederic Chopin oder Robert Schumann spielte, imponierte er nicht mit ausgestellter Bravour, sondern mit der Größe und bezwingenden Schönheit der Musik, für deren unbedingte Realisierung er seine grandiosen pianistischen Mittel vorbehaltlos einsetzte.

Manchen war Freire zu wenig angekränkelt, zu wenig grüblerisch - denen klangen sein Beethoven, sein Liszt, sein Brahms zu selbstverständlich. Dabei waren sie immer plastisch ausformuliert und klar durchartikuliert. Und diese Unmittelbarkeit und Unmissverständlichkeit war nur möglich durch ein Spiel, das es nicht nötig hatte, irgendwas in vermeintlichem Tiefsinn zu vernebeln oder zu verstecken. Die ausdrucksvolle Diesseitigkeit und die direkte Lebendigkeit genügten völlig.

Wenn er sich Brahms widmete, verschwand die Schwerfüßigkeit aus den weiten Melodiebögen

Nelson Freire war neben Martha Argerich - mit der er seit gemeinsamen Wiener Studientagen befreundet war und mit der er oft zusammen auftrat - und Daniel Barenboim sicher der berühmteste Pianist seiner Generation aus Lateinamerika. Am 18. Oktober 1944 in Boa Esperança im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais geboren, zeigte sich sein Talent früh. Mit fünf Jahren trat er erstmals auf, mit zwölf wurde er Siebter beim Internationalen Klavierwettbewerb in Rio de Janeiro. Das brachte ihm ein Stipendium in Wien ein, wo er beim berühmten Bruno Seidlhofer studierte, der unter anderem auch Argerich und Friedrich Gulda unterrichtete.

Es folgten Preise wie die Dinu-Lipatti-Medaille in London und der Sieg im Lissaboner Musikwettbeerb - und die Weltkarriere, die ihn auf alle wichtigen Podien und zu allen bedeutenden Orchestern brachte. Ob Pierre Boulez, Rudolf Kempe, Rafael Kubelík oder Lorin Maazel und Valery Gergiev, sie alle hatten die Ehre, diesen unvergesslichen Virtuosen zu begleiten. Wenn er sich den beiden Klavierkonzerten von Johannes Brahms widmete, dann verschwand die Schwerfüßigkeit aus den weiten Melodiebögen ebenso wie klirrende Patzigkeit im Akkordspiel, die oft fälschlicherweise für typisch Brahms gehalten werden. Bei Nelson Freire federte die Vollgriffigkeit von Brahms, leuchteten Piano und Pianissimo, blitzten und funkelten die Fortissimo-Passagen von strahlender Vitalität.

Dieser untrügliche Sinn für pianistische Präsenz, ohne sich wichtigtuerisch vor die Musik zu drängen, hat Nelson Freire zu einer so unbestechlich sicheren wie gefeierten Instanz großen Klavierspiels gemacht. Vor zwei Jahren brach er sich bei einem Sturz auf der Strandpromenade in Rio einen Arm und musste operiert werden. Seitdem war es still geworden. Am 1. November ist Nelson Freire, einer der Maßstab setzenden Pianisten unserer Zeit, gestorben.

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