Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Rollenspiele

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Dieter Kühn war ein Autor mit einem ausgeprägten Möglichkeitssinn. Nun ist der erzählende Biograf und biografische Erzähler mit 80 Jahren gestorben.

Von Jens Bisky

Nachdem sie die ersten Bombenangriffe erlebt hatten, entschied die Mutter, dass es besser sei, in eine Pension in Berchtesgaden zu ziehen. So seien ihm, wie sich der 1935 geborene Dieter Kühn Jahrzehnte später erinnerte, "200 Bombenangriffe auf Köln erspart geblieben. Manchmal frage ich mich, was geschehen wäre, wenn meine Mutter damals gesagt hätte, ,ach, das wird schon nicht so schlimm kommen'". Die biografisch fundierte Skepsis dieses Schriftstellers gegen den Schein der Unvermeidlichkeit wurde genährt durch Lektüre. In Robert Musils Roman "Mann ohne Eigenschaften", über den Dieter Kühn seine Dissertation schrieb, lernte er den sanften Spott auf die abgenutzen, aber schwer zu vermeidenden Erzählkonventionen mit "als", "ehe" und "nachdem" kennen. Und so fragte er in seinem Prosadebüt, der Napoleon-Biografie "N" (1970), warum Napoleon nicht Schriftsteller geworden sei. Für seinen ersten Roman "Die Präsidentin", drei Jahre später erschienen, schlüpfte Kühn in verschiedene Erzählerrollen und schilderte die Geschichte der Spekulantin und Wirtschaftsverbrecherin Marthe Hanau mal als Illustrierten-Story, mal als sozialistischen Roman, mal als Krimi, Erfolgsfilm oder Dokumentation. Seine Spiele mit Perspektiven und Möglichkeiten glückten stets, weil Kühn sich auskannte in den Welten, über die er schrieb.

Sein größter Erfolg wurde die Biografie des spätmittelalterlichen Ritters und Dichters Oswald von Wolkenstein: "Ich Wolkenstein" (1977), ein Werk der Gelehrsamkeit und Fantasie gleichermaßen. Es folgten 1986 "Der Parzival des Wolfram von Eschenbach" und 1988 "Neithart aus dem Reuental". Auch überführte er Tristan und Parzival aus dem Mittelhochdeutschen in eine moderne Sprachgestalt. Dieter Kühn schrieb Gedichte, Essays, Hörspiele, war eine Zeit lang für die FDP Stadtverordneter in Düren und beförderte in Büchern über Beethoven, Clara Schumann, die Naturkundlerin Sibylla Merian oder im Erzählungsband "Ich war Hitlers Schutzengel" den grenzüberschreitenden Verkehr zwischen Realgeschichte und Fiktion. Zuletzt widmete er sich der eigenen Lebensgeschichte: "Es ist nicht so, als hätte ich ein klar konturiertes, zutreffend koloriertes Bild parat von mir selbst", heißt es in seinem Lebensbuch "Das magische Auge" (2013), dem in diesem Jahr "Mein Logbuch" folgte. Am Samstag starb der virtuose Biograf Dieter Kühn im Alter von 80 Jahren in seiner rheinischen Heimat.

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SZ vom 28.07.2015
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