Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Der Mann mit dem Röntgenblick

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Ruheloser zwischen den Kontinenten: Zum Tod des amerikanischen Soziologen und Linksintellektuellen Norman Birnbaum.

Von Stefan Kornelius

Norman Birnbaum war die Inkarnation des Warners und Mahners, das ewig schlechte Gewissen Amerikas, das der Nation ein Gesicht zeigte, das sie selbst im Spiegel nicht sehen wollte: elitengesteuert, unsozial, rassistisch, ungebildet, imperialistisch und selbstgerecht. Insofern war Norman Birnbaum ein Anwalt des ungehörten Amerikas, all jener US-Bürger also, die er in ungeschminkter Klarheit als Proleten bezeichnete und deren (vor allem ökonomisch-soziales) Schicksal ihm am meisten bedeutete.

So einen Linken haben diese USA jedenfalls nicht oft hervorgebracht. "Aus der Bronx nach Oxford und nicht wirklich zurück," wie er seine Autobiografie überschrieb, hat Norman Birnbaum ein einzigartiges Intellektuellenleben gelebt, das linke Geistesgeschichte in Europa und den USA verband und in seltener Gradlinigkeit durch 92 Lebensjahre führte. Viele seiner Zeitgenossen sind bei den Neokonservativen gelandet, Birnbaum aber blieb sich treu, als im jüdischen New Yorker Bildungsbürgermilieu geprägter Sozialist, der (wie er im typisch ironischen Ton erzählte) "mit zwölf Jahren gelernt hat, zwischen Stalin und Trotzki zu unterscheiden".

Ein Linker aus der Zeit des New Deal, quasi elektrisiert und politisiert in Lehr- und Wanderjahren in London, Paris, Straßburg. Birnbaum hat in Harvard über die Reformation promoviert, an der London School of Economics, in Oxford und zuletzt an der Georgetown University in Washington unterrichtet. Tatsächlich aber war er mehr als ein Soziologe, eher ein Pathologe verblichener Gesellschaften und ein Radiologe der Gegenwart.

Seine linke Verwurzelung und seine Kritik an der regierenden Elite hielt ihn gleichwohl nicht fern von den Konservativen oder Mächtigen, im Gegenteil. Bei Jimmy Carter hatte er eine Beraterfunktion im Weißen Haus inne, mit Henry Kissinger unterrichtete er Seite an Seite.

Und dennoch blieb Birnbaum im intellektuellen Amerika ein Außenseiter, ein Exot, vielleicht weil er die letzte Verbrüderung ablehnte und selbst auch mit seiner Identität haderte - ein Ruheloser zwischen den Kontinenten. Diese Welt und ihr Amerika waren sein Lebensthema, die mächtige Nation mit ihren noch mächtigeren Konstruktionsfehlern. Vielleicht wurde er deswegen auch besonders gerne in Deutschland gelesen, wo man in linken Kreisen einen Geistesbruder in der Neuen Welt gefunden hatte.

Welch bittere Wendung, dass Birnbaum in seinen letzten Lebensjahren ansehen musste, wie die von ihm beschriebene Arbeiterklasse, vor allem die weißen Männer, die Zurückgelassenen und Vergessenen, einen ungebildeten Populisten und Erzkapitalisten zum Präsidenten wählten, den Prototypen allen Übels aus Birnbaums Sicht. Für Trumps Rückzugsbefehl an den Weltpolizisten zeigte Birnbaum freilich Sympathie. Durchaus prophetische Kraft hat er bewiesen, als er schon vor 20 Jahren den USA und damit der Welt eine Prüfung vorhersagte, die seine revolutionären Sechzigerjahre wie ein Kinderspiel würden aussehen lassen. Am Samstag starb Birnbaum im Alter von 92 Jahren in Washington.

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SZ vom 08.01.2019
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