Süddeutsche Zeitung

Nachlass von Franz Kafka:Wem gehört Kafka?

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"Gegenstand wildester Spekulation": ein Gespräch mit dem Philologen Andreas Kilcher über die strittigen Besitzverhältnisse von Kafkas Manuskripten im Nachlass seines Freundes Max Brod.

Lothar Müller

Im September 2007 starb in Tel Aviv die langjährige Mitarbeiterin des Schriftstellers Max Brod Ilse Ester Hoffe im Alter von 101 Jahren. Brod, der 1968 starb, hatte seinen Nachlass an sie gegeben, ihr Autographen seines Freundes Franz Kafka geschenkt. Gegen die Töchter Ester Hoffes, die die Konvolute an das Deutsche Literaturarchiv verkaufen wollen, prozessiert derzeit die Israelische Nationalbibliothek. Zugleich kursieren in der Öffentlichkeit Gerüchte, es gehe dabei auch um bislang unbekannte Manuskripte Kafkas. Die Süddeutsche Zeitung befragte dazu Andreas Kilcher, Kafka-Philologe und Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich.

SZ: Welche Kafka-Manuskripte waren im Handkoffer Max Brods, als er 1939 von Prag nach Palästina flüchtete?

Andreas Kilcher: Brod gab darüber 1950 folgende Auskunft: "Als ich in der Nacht vom 14. zum 15. März 1939 Prag verließ, in derselben Nacht, nach der die Hitlertruppen Prag besetzten ..., hatte ich sämtliche Manuskripte im Handkoffer bei mir." Das stimmt nicht ganz. Tatsächlich meine er: all jene Manuskripte, die er zuvor in seine Obhut bringen konnte. Nicht dabei waren die Briefe an Milena, die sie im Frühjahr 1939 Willy Haas anvertraute. Weitere Texte - wie der Brief an den Vater, die Familienbriefe sowie die Erzählung "Die Verwandlung" - waren 1939 bei Kafkas Schwester Ottla verblieben. Ein wichtiges Konvolut waren schließlich die Briefe an Kafkas Verlobte Felice Bauer, die diese bei der Emigration in die USA mitgenommen hatte.

SZ: Worum geht es in dem Gerichtsverfahren?

Kilcher: Primär geht es darum, die Besitzverhältnisse zu klären. Im Zentrum steht die strittige Auslegung von Brods Testament von 1961. Dieses legt die Möglichkeit nahe, dass Ester Hoffe die Manuskripte aus Brods Nachlass einem Archiv zu übergeben habe: "Auch dieser Teil meines Nachlasses soll an Frau Ilse Ester Hoffe übergehen. Sie soll aber verpflichtet sein, Vorsorge zu treffen, dass nach ihrem Tode ihren Erben ... zwar die materiellen Rechte ... weiterhin zustehen sollen, dass aber die ... Manuskripte, Briefe und sonstigen Papiere und Urkunden der Bibliothek der Hebräischen Universität Jerusalem oder der Staatlichen Bibliothek Tel Aviv oder einem anderen öffentlichen Archiv im Inland oder Ausland zur Aufbewahrung übergeben werden sollen ..., falls Frau Ilse Ester Hoffe zu ihren Lebzeiten nicht anderweitig über sie verfügt hat." Vor allem darauf gründet die hebräische Nationalbibliothek ihren Anspruch auf den Nachlass. Sie bestreitet, dass die Hoffes den Brod-Nachlass und die Kafka-Autographen, die sie diesem Nachlass zurechnet, als ihr privates Eigentum erachten und daher auch (z. B. nach Deutschland) verkaufen dürfen. Die Hoffes dagegen bestehen auf der Rechtmäßigkeit der Jahre vor Brods Testament erfolgten Schenkung der Kafka-Autographen, für die spricht, dass eben diese Schenkung ein israelisches Gericht bereits im Jahr 1974 anerkannt hat.

SZ: Welche Rolle spielt bei dem Streit der Umstand, dass Kafka dem Judentum entstammte?

Kilcher: Es geht in den zahllosen Stellungnahmen mal indirekt, mal offen auch um eine Frage des kulturellen Anspruchs auf Kafka. Von israelischer Seite wird nicht selten mit dem Holocaust argumentiert, genauer damit, dass Kafkas drei Schwestern in Auschwitz ermordet wurden. So wird etwa Ilana Haber, Mitarbeiterin der Nationalbibliothek, in der israelischen Zeitung Haaretz zitiert: "I want to ask the Germans: If Kafka who died in 1924, had lived longer, what would have happened to him? He would have been sent to Auschwitz like his sisters and many of his family members. It was his luck that he died of tuberculosis." Damit wird deutschen Einrichtungen wie Marbach quasi die moralische Legitimität für Kafka (letztlich für alle jüdischen Autoren) abgesprochen.

Ein weiteres Argument spielt in diesem Kulturkampf um Kafka eine Rolle: dass er Zionist gewesen sei. So schrieb etwa der israelische Germanist Mark Gelber in der New York Times: "Why does Kafka belong here? Because the Zionist enterprise was important to him." Dem stehen Stimmen aus Deutschland entgegen, die Kafka als deutschen Autor und Marbach als das bessere Archiv gegenüber der Nationalbibliothek in Jerusalem sehen. Das alles sind eher kulturpolitische als sachliche Argumente. Sie sind bezeichnend für die historisch- moralische Überfrachtung des Diskurses über die deutsch-jüdische Literatur.

SZ: Können sich in den Banksafes in Zürich und Tel Aviv, die im Zuge des Prozesse geöffnet wurden, unbekannte Manuskripte Franz Kafkas befinden?

Kilcher: Diese Frage ist in manchen Medien zum Gegenstand wildester Spekulation geworden. In Haaretz ist von einem "huge amount" von Kafka-Originalen die Rede, am 22. Juli wusste die Zeitung von einer bislang unbekannten Kafka-Kurzgeschichte zu berichten. Faktum ist, dass nahezu alles Material der Safes publiziert ist, bis auf einige Zeichnungen Kafkas. Mitte der achtziger Jahre wurde im Auftrag von Ester Hoffe für die kritische Kafka-Ausgabe des Fischer-Verlags ein detailliertes Inventar der Banksafes in Zürich sowie des gesamten Brod-Nachlasses in Tel Aviv - in Hoffes Wohnung und in Banksafes - angefertigt. Dieses Inventar ist zwar nie publiziert worden, jedoch gewissermaßen in der Kafka-Ausgabe realisiert. Zudem sind jene Kafka-Materialien, die in Zürich lagen oder noch dort liegen - im Wesentlichen Briefe zwischen Kafka und Brod sowie Reisetagebücher - seit gut zwanzig Jahren ediert. Der Großteil des Kafka-Nachlasses liegt ohnehin in Oxford. Summa summarum: große Geheimnisse gibt es keine.

SZ: Welche Bedeutung hat der Nachlass Max Brods für die Kafka-Forschung?

Kilcher: Der Brod-Nachlass in Tel Aviv ist für die Forschung fast interessanter als der Kafka-Nachlass, dem so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im Brod-Nachlass befindet sich unbekanntes Material, das - neben Brods weitverzweigter Korrespondenz mit Autoren seiner Zeit - auch ein neues Licht auf Kafka werfen kann. An erster Stelle stehen da Brods Tagebücher seit 1901, die laut Inventar "viel über Kafka" enthalten - der Zürcher Verlag Artemis & Winkler hat übrigens vor 20 Jahren schon die Rechte daran erworben, doch bisher wurden die Tagebücher von den Hoffes zurückgehalten. Auf sie kann man ebenso gespannt sein wie auf die Briefe Dora Diamants an Max Brod, in denen auch von 20 Notizheften Kafkas die Rede ist, die 1936 in Doras Berliner Wohnung von der Gestapo beschlagnahmt wurden und die nach wie vor als verschollen gelten - man vermutet sie heute in Polen. Dies nur, um einige Beispiele zu nennen.

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Quelle:
SZ vom 27.09.2010
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