Süddeutsche Zeitung

Musik:Sei mir gegrüßt, Melancholie!

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Der unkonventionelle Dirigent Paul McCreesh hat eine eigene Plattenfirma gegründet und Händels "L'Allegro, il Penseroso ed il Moderato" in einer grandiosen Aufnahme herausgebracht.

Von Reinhard J. Brembeck

Jahrhundertelang waren Musik und Melancholie fast deckungsgleich. Besonders in Englands Renaissance und Barock, Zeiten, die sich liebend gern und immer auch ein wenig weinerlich und selbstmitleidig in dunkle Abgründe gleiten ließen. Und was für köstliche Klänge und Klanggespinste John Dowland, Henry Purcell und William Lawes für diese Anwandlungen fanden! Die Melancholie war die unbestrittene Herrscherin der Inselreichs, der auch die Literaten bedingungslos huldigten - nachfolgenden Epochen und Künstlern fiel es ausnehmend schwer, von dieser Leidenschaft loszukommen.

Auch der Dichter und politische Schriftsteller John Milton (1608-1674), dessen Epos "Paradise Lost" ihn weltberühmt machte, war von der Melancholie berührt. Er widmete ihr ein frühes Langgedicht mit dem Titel "Il Penseroso" (Der Grübler) - zugleich schrieb er mit "L'Allegro" das auf Lebensfreude gerichtete Gegenstück. Einhundert Jahre später, Georg Friedrich Händel hatte das Komponieren italienischer Opern fast gänzlich aufgegeben, kam einer seiner Freunde auf die grandiose Idee, die beiden Milton-Gedichte als Grundlage für ein Libretto zu nehmen, in dem der Grübler und der Lebenslustige abwechselnd ihre sich ausschließenden Lebensentwürfe zum Besten geben. Weil Musik aber von der Synthese lebt, fügt das Libretto noch einen neuen dritten Teil an, der dem "Moderato" vorbehalten ist, welcher die Wonnen der Mäßigung und des Mittelwegs singt.

Händels Komposition "L'Allegro, il Penseroso ed il Moderato" aber hat überhaupt nicht Mäßiges an sich; vom Goldenen Mittelweg ist diese "Pastorale Ode" meilenweit entfernt. Hörbar war der Meisterkomponist ziemlich erleichtert, endlich nicht mehr nur die formal in Endloswiederholungen von Rezitativ/Arie erstarrten Seria-Opern schreiben müssen. Jetzt hatte er endlich freie Hand: Der Chor darf immer ein kräftiges Wort mitsingen, die Töne schmiegen sich feinfühlig den bildreichen Texten Miltons an, wirkungsvolle Kontraste sind durchs Thema garantiert, und die vier Solisten samt Chor singen gleicherweise die drei Protagonisten - allein am Gestus der Musik erkennt jeder, welcher Lebensentwurf sich da gerade äußert.

Paul McCreesh, Jahrgang 1960, ist einer der radikalsten, neugierigsten und unkonventionellsten Dirigenten. Neuerdings hat er sein Aktionsfeld über Mittelalter, Renaissance und Barock in die Romantik sowie die Moderne ausgedehnt und eine eigene Plattenfirma gegründet, die - McCreesh ist ein eingefleischter Venedig-Fan - "Winged Lion Records" heißt (bei Signum erhältlich). Dort hat er jetzt auch Händels "L'Allegro, il Penseroso ed il Moderato" herausgebracht, mit seinem Gabrieli Consort und den von Gillian Webster angeführten Solisten: Das Ganze gelingt als betörend getanztes Menschheitsdrama.

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SZ vom 24.08.2015
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