Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Guillermo Mordillo:Hoffnung geben angesichts des unausweichlichen Schicksals

Die knollennasigen Geschöpfe von Mordillo lebten von der kindlichen Überzeugung, unbedingt fliegen zu wollen - bevor sie abstürzten. Über einen, der die Verlorenheit des Individuums umarmen konnte.

Nachruf von Martin Zips

Eine dunkle Vorort-Siedlung, trostlos reihen sich unzählige Spitzgiebelhäuser an Straßen ohne Grün. Mitten im traurigen Einheitsgrau hat ein winziges, knollennasiges Wesen gewagt, sein Dach in geschwungenen, rosa-violetten Wellen zu bemalen. Die Leiter lehnt noch an der Hauswand. Doch schon wird der Querulant abgeführt. Mit Schlagstock ins Polizeifahrzeug begleitet. Die wohl berühmteste Zeichnung des großen argentinischen Cartoonisten Guillermo Mordillo y Meléndez stammt aus dem Jahr 1973. Er selber nannte sie einmal sein "Plädoyer gegen Totalitarismus".

In den Siebziger- und Achtzigerjahren war Mordillo für die deutsche Dauerwellen-jugend das, was heute vielleicht Pokémons oder SpongeBob sind, GIFs und Sticker in den Whatsapp-Chatgruppen: omnipräsente Alltagsoptik. Mordillos Giraffen schmückten, nachgezeichnet, Federmäppchen und Schulranzen. Seine Knollennasen prangten auf Stiften und Radiergummis, Kalendern und Hausaufgabenbüchern.

Mordillo war überall. Wöchentlich im Stern, auf Postern in Kinderzimmern, auf Postkarten, auch animiert im Fernsehen und später auf den Infoscreens der U-Bahnhöfe. Sein großes Thema, die Verlorenheit des Individuums, verband ihn mit seinem französischen Zeitgenossen Jean-Jacques Sempé - ihre Geburtstage liegen nur wenige Stunden auseinander. Mordillos Welten aber waren poppiger, bunter, weicher, harmloser. Manche würden sagen: kommerzieller. Und anders als Sempé hatte es Mordillo gar nicht nötig, seine Werke zu verkaufen. Er konnte allein von den Lizenzen leben.

Als Sohn ausgewanderter Spanier kam Mordillo 1932 in einem Arbeiterviertel von Buenos Aires zur Welt. Wegweisend für sein Leben war der Besuch einer Filmvorführung. Als Sechsjähriger sah er zusammen mit seiner Mutter Disneys "Schneewittchen" - noch im Kinosaal beschloss er, Zeichner zu werden. Auch später verschwieg Mordillo nie, dass er sich die Nase, das Erkennungszeichen seiner von üppig bunter Natur, Technik und Architektur gebeutelten, stets farblosen Männchen von Disneys Zwergen geklaut hatte. Vor allem die Szene, in der sich deren Riechorgane aus Verwunderung über die schlafende Riesin über die Bettkante schoben, sei ihm nie mehr aus dem Kopf gegangen. Und ja, Mordillo sah darin natürlich auch etwas Erotisches.

"Kennen Sie meinen Cartoon, wo Tarzan auf dem Rüssel eines Elefanten sitzt und Jane, als sie das sieht, in Ohnmacht fällt?", fragte Mordillo einmal einen Interviewpartner. "Das bin nicht ich. Das ist ihre Fantasie!"

Schon mit 15 Jahren hatte er sich sein erstes Geld mit Bildergeschichten verdient, in Lima arbeitete er später fünf Jahre als Werbezeichner und Artdirektor einer internationalen Agentur. Optisch erinnern viele seiner Arbeiten aus dieser Zeit an die Cartoons von Ub Iwerks und Tex Avery, an William Hanna und Joseph Barbera aber auch für seine eigene Kreation, das Mordillo-Männchen, gibt es erste Belege.

Wie seine Kollegen Tomi Ungerer und Sempé landet auch Mordillo vorübergehend in New York. Paramount Pictures macht ihn für die Trickfilmserie "Popeye" zum "Assistenten für Animation". Glücklicher wird er später in Europa, wo er während einer Reise in Paris 1963 von einem Postkartenverleger eingestellt wird - und 17 Jahre lang an der Seine bleibt. Paris Match und andere französische Magazine schmücken sich mit seinen, mittlerweile zum Markenzeichen avancierten, Männchen. Ab Ende der Sechzigerjahre eben auch der deutsche Stern.

In Deutschland ist sein Erfolg am größten, was er selber allerdings am wenigsten versteht, denn die Zeichnungen und den Humor seines Kollegen Loriot beispielsweise findet er: "schwer verständlich". Ja, Mordillos Kunst war hierzulande zeitweise derart populär, dass die bayerischen Christsozialen noch im Jahr 2007 eine Pressemitteilung versehentlich mit "Zeter und Mordillo" überschrieben. Eigentlich hatten sie sich über das Zeter und Mordio bei der SPD lustig machen wollen.

Doch auch woanders wird Mordillo und seine Kunst geliebt. Der französische Pantomime Marcel Marceau lobt die "Zärtlichkeit" in seinen Bildern, die dem Menschen Hoffnung gebe "angesichts des unausweichlichen Schicksals, das über unseren Köpfen hängt". Die britische Schauspielerin Jane Birkin beobachtet bei Mordillos Figuren eine "kindliche Überzeugung" unbedingt fliegen zu wollen - bevor sie schließlich abstürzen. Und der brasilianische Fußballspieler Pelé empfindet beim Betrachten von Mordillos - sich in riesigen Labyrinthen, auf hohen Bergen oder gewaltigen Kugeln verirrt habenden - Wesen "eine ähnliche Freude wie beim Toreschießen".

Seine Zeichnungen funktionierten wie der menschliche Körper, erklärte Mordillo einmal. "Alles ist abgerundet: Kopf, Finger, Zehen. Denn Rundes sieht einfach besser aus. Speziell bei Frauen." Seine Schlösser erinnern an die Moskauer Basilius-Kathedrale, seine Gebirge an Frei Ottos Olympiapark in München, seine Nonsense-Maschinen, Fahrzeuge und Instrumente an die Erfindungen eines Rube Goldberg, sein Tierpark an die Knetgummiwelten eines Nick Park. Organisch konzipierter Spaß.

Dialoge ließ er nur gelten, wenn sie von Woody Allen stammten

Privat war der sportbegeisterte, in Monaco, Frankreich und auf Mallorca lebende Sohn eines Elektrikers und einer Hausangestellten stets ein großer Familienmensch. Fast 50 Jahre mit der gleichen Frau verheiratet und begeistert von seinen Kindern - die Tochter wurde Designerin, der Sohn ging in die Automobilbranche.

Seinen abendlichen Rotwein schätzte er ebenso wie das Fernsehen, dessen Bild er gerne auf Schwarzweiß schaltete und den Ton abdrehte, weil er das lustiger fand. Dialoge ließ er nur gelten, wenn sie von Woody Allen stammten. Und Cartoons nur, wenn die Figuren eine große Nase hatten.

Sein zeichnerisches Lieblingsobjekt blieb bis zuletzt die Mordillo-Giraffe, obwohl der Künstler selbst alles andere als von großer Statur war. Als größtes Vorbild nannte er neben Keaton auch den ehemaligen Karikaturisten Federico Fellini, verwandter Schöpfer fantastischer Dada-Welten. In Rom, so erzählte Mordillo, sei er einmal zufällig von Fellini auf der Straße angesprochen worden. Der Regisseur habe ihn gefragt, wie spät es sei und Mordillo sei so perplex gewesen, dass er einfach nur geantwortet habe: "8.30 Uhr." Mehr nicht. Ach, wie konnte er nur? Er hätte ihm von seinen Lieblingsszenen berichten können.

Jetzt, da Guillermo Mordillo y Meléndez im Alter von 86 Jahren auf Mallorca gestorben ist, stellt sich vor allem eine Frage: Was wird aus seinem gewaltigen, mehrere tausend Zeichnungen umfassenden, in dunklen Tresoren gelagerten künstlerischen Nachlass? Dass sein großer Traum von einem eigenen Museum - das von Tomi Ungerer in Straßburg erweckte in ihm Wehmut - einmal Wirklichkeit wird, das hat er leider nicht erlebt.

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