Süddeutsche Zeitung

Kinder- und Jugendbuchautorin:Dem Glück einen Stuhl hinstellen

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Sie beschrieb, was sie erlebt hatte - und das grandios. Die unermüdliche Schriftstellerin und Übersetzerin Mirjam Pressler ist im Alter von 78 Jahren gestorben.

Von Roswitha Budeus-Budde

"Lesen lernen heißt leben lernen" nannte Mirjam Pressler ihren Vortrag, den sie 2001 am Institut für Jugendbuchforschung hielt. Da erzählte sie, wie sie, als uneheliches Kind 1940 in Darmstadt geboren, in einer asozialen Pflegefamilie nur überleben konnte, weil sie schon früh las. "Die Geschichte meines Schreibens ist so eng mit meiner Lesebiografie verbunden, dass ich beide nicht voneinander trennen kann." Und doch begann sie erst mit vierzig Jahren zu schreiben - denn "mein Leben besteht aus Umwegen, auch was das Schreiben betrifft".

Nach einer Zeit in einem Kinderheim bekam sie die Möglichkeit, Abitur zu machen, studierte dann einige Jahre an der Kunsthochschule in Darmstadt. Sie heirate früh einen Israeli und kam nach der Geburt ihrer drei Töchter aus Israel nach München zurück. Sie fuhr Taxi, arbeitete in einem Jeansladen und ärgerte sich so über die Bücher, die ihre Töchter lasen, dass sie selbst anfing zu schreiben. "Bitterschokolade", ihre erste Geschichte, erzählt von einem Mädchen, das den Alltagsfrust buchstäblich in sich hineinfrisst. Mirjam Pressler erhielt dafür gleich 1980 den Oldenburger Jugendliteraturpreis, die wichtigste Auszeichnung für Debüts in der Kinder- und Jugendliteratur. Dieses Buch wurde, mit inzwischen 400 000 Exemplaren, ihr erfolgreichster Titel.

Der Preis wirkte wie ein Startschuss, war der Beginn einer unglaublichen literarischen Produktivität. Als das Buch bei Beltz & Gelberg erschien, lagen bereits drei weitere Manuskripte im Verlag. Und der Verleger, Hans-Joachim Gelberg, spürte, dass hier nichts ausgedacht, dass alles erlebt war. "Nun red doch endlich" erzählt von der Not eines Mädchens, das unter seiner ungeklärten Herkunft und den Schwierigkeiten mit der Mutter leidet, "Kratzer im Lack" schildert die Verzweiflungstat eines Jungen, der sich als Verlierer fühlt und an seiner Umwelt rächt. Mirjam Pressler zählte bald zu den wichtigsten Autorinnen der antiautoritären Literatur, die bei Beltz & Gelberg erschien.

Ihr Werk ist schließlich auf über fünfzig Titel angewachsen, besonders erfolgreich darunter waren die Kindheitserinnerungen. Für "Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen" erhielt sie den Jugendliteraturpreis. Inzwischen konnte sie von ihrem Schreiben leben, experimentierte mit allen möglichen Formen, vom Bilderbuch bis zum belletristischen Roman: "Ich will immer alles ausprobieren, jede Herausforderung annehmen."

Schließlich begann sie, neben den eigenen Büchern, auch als Übersetzerin zu arbeiten, aus dem Niederländischen und später aus dem Hebräischen. Wichtige zeitgenössische Belletristik aus Israel - Batya Gur, Aharon Appelfeld, Uri Orlev, Lizzy Doron und Amos Oz - wurden von ihr ins Deutsche übertragen. Zu ihrer Übersetzung von Zeruya Shalevs "Liebesleben" meinte Marcel Reich-Ranicki: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass es im Original so gut ist wie in dieser Übersetzung".

Anfang der Neunzigerjahre erweiterte Mirjam Pressler ihren Blick auf beschädigte Kindheiten, auf den Holocaust in Europa. Die Beschäftigung in den Neunzigerjahren mit Anne Franks Tagebüchern führten unter anderem zu einer kritisch kommentierenden Textausgabe, die den Blick auf Anne Frank veränderte und sie auch heutigen Jugendlichen nahebrachten. Parallel dazu nutzte sie die Vorlagen großer Stoffe der Weltliteratur - wie der "Golem", der "Kaufmann von Venedig" oder die Ringparabel in "Nathan der Weise"- und gab ihnen eine zeitlose, tolerante Prägung. Auch ihr letztes Werk "Dunkles Gold", das im Frühjahr erscheinen wird und als ihr Vermächtnis anzusehen ist, beschäftigt sich mit jüdischen Schicksalen im Mittelalter und der Gegenwart, in zwei parallel erzählten Handlungssträngen. Trotz Flucht und Vertreibung, trotz des jetzt wieder aufkeimenden Antisemitismus sagt eine der Hauptpersonen am Schluss: "Es kann zwischen Juden und Deutschen auch klappen."

Sie schrieb und veröffentlichte unermüdlich, und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet - zum Beispiel mit dem Deutschen Buchpreis für ihr Lebenswerk, dem Preis der Leipziger Buchmesse (für die Übersetzung von Amos Oz' "Judas") und im Winter 2018 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz für die Verständigung zwischen Israel und Deutschland. Besonders aber liebte sie es (und fand immer Zeit dafür), auf Lesereisen zu gehen und mit Jugendlichen und Kindern zu reden - auch ihre schwere Krankheit hielt sie nicht davon ab. "Ich glaube sehr an die Macht positiver Vorbilder", meinte sie, und Happy End bedeutete für sie, dass die Leser von ihren Helden Überlebensstrategien für den Alltag lernen. Sie erzählt ihnen, wie es gelingen kann, in einer Welt zu leben, die sie nicht verändern können. Am Mittwoch ist Mirjam Pressler nach langer Krankheit im Alter von 78 Jahren in Landshut gestorben.

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SZ vom 17.01.2019
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