Süddeutsche Zeitung

Michel Houellebecq ausgezeichnet:Eins, zwei, drei

Lesezeit: 2 min

Zwischen Jubel und Hass schwankte in Frankreich die Kritik zu Houellebecqs frühen Romanen: Der Prix Goncourt für "La carte et le terroir" ist die späte Anerkennung für den wichtigsten französischen Autor.

Johannes Willms

Nein, Michel Houellebecq wurde nicht gemeinsam mit seinem Hund ermordet und in einer derart grauenhaften Weise zerstückelt, dass es der Polizei unmöglich ist, die einzelnen Leichenteile dem Herrn oder dem Hund zuzuordnen. "Er hatte viele Feinde", sagen die wenigen, die mit ihm Umgang hatten. Man habe sich ihm gegenüber stets ungerechtfertigt aggressiv, ja grausam betragen.

So kann man es in dem vierten großen Roman "La carte et le terroir" von Michel Houellebecq lesen, der im Verlag Flammarion erschienen ist und jetzt mit dem angesehensten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet wurde. Die fiktive, in einer fernen Zukunft situierte Ermordung Houellebecqs ist emblematisch für die heftigen, zwischen Jubel und Hass schwankenden Reaktionen, mit denen die Kritik in Frankreich auf seine früheren Romane reagierte. Jetzt haben sieben der neun Mitglieder der Goncourt-Jury für ihn votiert. Das ist eine späte Anerkennung für einen Romancier, der längst als der wichtigste französische Gegenwartsautor gilt und in seinen Romanen die gespenstische und gleichzeitig triviale Mechanik der Konsumgesellschaft ausleuchtete.

Dieser Botschaft bleibt Houellebecq auch in seinem neuen Roman treu, dessen Protagonist, der Maler Jed Martin, wie ein Alter Ego des Autors anmutet. "Der Blick des Künstlers auf die Gesellschaft seiner Zeit", so wird er beiläufig charakterisiert, "ist mehr der eines Ethnologen als eines politischen Kommentators." Die distanzierte Kälte, mit der Jed Martin seinen plötzlichen Ruhm erlebt, der ihm mit einer ersten Ausstellung zuteil wird und für deren Katalog ein gewisser Michel Houellebecq das Vorwort schreibt, ist aber im Buch mit bisweilen überwältigender Komik temperiert.

Diese erste Ausstellung erklärt auch den Titel des Romans, in der Jed Martin Fotografien der bekannten Straßenkarten der Reifenfirma Michelin zeigt, die ungeachtet ihrer schieren Banalität von der Kunstkritik mit großer Begeisterung aufgenommen werden. Das kommentiert der Autor lakonisch: "Die Karte ist viel wichtiger als das Gelände."

Doch der Roman ist nur nebenbei eine furiose Satire auf den Kunstbetrieb. Sein Hauptthema ist vielmehr die soziale Geographie Frankreichs, die Befindlichkeit eines Landes, das mit mitleidlosen Beobachtungen von Szenen, Verhaltensweisen, Denk- und Sprachmustern in schmerzhafter Genauigkeit fixiert wird.

Alle diese Schilderungen muten nicht zuletzt deshalb so realistisch an, weil sie mit einer Fülle von realen Personen belebt sind. Neben einigen, die den französischen Fernsehzuschauern vertraut sind, tauchen auch die Schriftsteller Frédéric Beigbeder oder Philippe Sollers auf. Diese Personen repräsentieren aber lediglich Typen, nicht die Individuen, deren Namen sie tragen. Sie sind gleichsam nur die Elementarteilchen, die einer dekadenten, dem Untergang geweihten Gesellschaft den Anschein der Lebendigkeit verschaffen. Mit diesem Roman ist es Michel Houellebecq gelungen, ein ebenso unbarmherziges wie äußerst amüsantes Bild der französischen Gesellschaft zu schaffen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1021093
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.11.2010
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.