Süddeutsche Zeitung

Literaturfest:Unterwegs in naher Ferne

Lesezeit: 3 min

Die Schriftsteller Ingo Schulze und Aleš Šteger lassen sich von Verkäufern der Straßenzeitschrift "Biss" andere Ecken von München zeigen - und Texte vorlesen

Von Antje Weber

Es ist ein äußerst geeigneter Tag, um sich den Härten des Lebens zu stellen. Ein fieser Ostwind zieht durch die Straßen, das Thermometer hängt kurz über Null. Obdachlos möchte man nicht sein an diesem Mittwoch. Doch kann sich das jeder aussuchen?

Darüber lässt sich an diesem Nachmittag anfangs noch im Warmen nachdenken. Eine große Runde hat sich zusammengefunden im Haidhauser Büro der Straßenzeitschrift Biss, vor 26 Jahren gegründet, um obdachlosen oder sonstwie in Schwierigkeiten geratenen Menschen zu helfen. Einige Verkäufer sitzen am Tisch, Ingo Schulze und Aleš Šteger geben einem Fernseh-Team erste Auskünfte. Dabei sind sie es selbst, die hier etwas erfahren wollen: Der Schriftsteller und Literaturfest-Kurator ist mit seinem slowenischen Kollegen und vielen Fragen gekommen, und das wirkt nicht aufgesetzt. Denn Schulze findet solche Begegnungen wichtig, "auch für einen selbst". Er will nicht nur vom Leben und Schreiben der Biss-Verkäufer erfahren - sondern hält es auch für eine "Prüfung", die eigenen Texte einem Publikum auszusetzen, das normalerweise nicht ins Literaturhaus gehe oder vielleicht im "Oskar Maria" die Biss anbiete: Inwiefern halten die Texte "der Wirklichkeit stand"?

Einer Wirklichkeit, die Schulze schon immer in all ihren Facetten interessiert hat: Seine Zeit in St. Petersburg habe ihn zum Schriftsteller gemacht, hat er einmal gesagt; dort habe er in den frühen Neunzigerjahren die Ouvertüre eines brutalen Kapitalismus erlebt, "die Superreichen und das Heer der Armen". Auch Aleš Šteger setzt sich den Widersprüchen der Realität immer wieder bewusst aus, für seine bisher zwei Bände eines "Logbuchs der Gegenwart" hat er zum Beispiel schon mal in einem Schaufenster in Ljubljana gesessen, mal an einer Busstation in Belgrad syrischen Geflüchteten zugehört; erst kürzlich hat er in Bautzen ausführlich mit einem Müllmann über Neonazis gesprochen.

Unaufgeregt und ehrlich interessiert lassen sich die Schriftsteller zunächst von der Biss-Geschäftsführerin Karin Lohr ein paar Fakten erzählen. 54 Verkäufer sind derzeit angestellt, bieten auch Stadtführungen an, machen bei Schreibwerkstätten mit. "Erstaunlich" findet Schulze die Heft-Auflage von 45 000 - "ich war ja auch mal Zeitungsverleger". Später wird er noch sagen, für wie wichtig er die Zeitschrift auch als "Erfahrungsspeicher" halte; was hier stehe, finde man sonst nicht. Dann trägt man einander erste Texte vor, die Verkäufer Udo Güldner und Wolfgang Kurz lesen autobiografische Skizzen, Schulze eine Sequenz aus "33 Augenblicke des Glücks". Alle halten der Wirklichkeit stand.

Doch jetzt endlich raus aus der Komfortzone. Auf dem Weg zum Ostbahnhof erzählen Schulze und Literaturfest-Projektleiterin Heike Braun noch eben, wie gut diese neue Idee funktioniere, einmal andere Münchner als die üblichen Literaturhaus-Besucher zu erreichen. Besonders nach der Lesung Dževad Karahasans in der Frauenabteilung der JVA Stadelheim habe es "herzzerreißende" Rückmeldungen gegeben. Schulze hofft auf mehr als "Eintagsfliegen", will mit seinem nächsten Buch im März wieder die JVA besuchen, vielleicht auch wieder Biss. Jetzt aber begrüßt er erst einmal den aus Russland stammenden Verkäufer Igor Vlad, der in einem zugigen Gang des Ostbahnhofs neben einem Passbildautomaten auf Kunden wartet - in fließendem Russisch, soweit man das beurteilen kann, plaudern die beiden eine Weile, dann liest der Verkäufer Zuheir Takiyan eine Geschichte aus seinem Alltag vor.

"Für einen Verkäufer ist München ein guter Platz", erzählt sein üblicherweise in Pasing stehender Kollege Pietro Dorigo, während die Gruppe weitergeht und über eine Stichstraße in den hinteren Teil des Ostfriedhofs gelangt. Dort sind 13 Biss-Verkäufer in einem schön gepflegten Gemeinschaftsgrab begraben, auch Verkäuferinnen übrigens, an eine von ihnen erinnert Dorigo mit einem Text. Abgeschnitten vom Leben ist dieses Grab nicht; mal dröhnt ein Presslufthammer, Krähengekrächz, und alle paar Minuten rauscht ein Zug vorüber. Dass die "inneren und äußeren Reisen" für viele Biss-Angestellte wichtig seien, hat Lohr zuvor erzählt, und man hört es aus vielen ihrer Texte heraus. Dieses Grab an den Bahngleisen sei ein guter Platz, soll einer von ihnen einmal gesagt haben, weil die Seelen mitfahren könnten.

"Das bewegt mich schon sehr", wird Aleš Šteger etwas später mit Blick auf das Grab sagen. "Wir leben sehr eingeschlossen in unseren kleinen Literaturwelten", und das führe zu einer Art Lebensfremde. Dass dies in seinem Fall nicht so ist, beweist die kurze, anrührende Lesung zweier Gedichte aus seinem existenziell ausschwingenden Band "Über dem Himmel unter der Erde". Um Tode geht es in den Versen, die Šteger elegisch intensiv vorträgt, um Steine, um das Wasser des Lebens. Und um Behauptungen wie diese: "Es gibt kein Ende. Nur die Gletscher sterben."

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Quelle:
SZ vom 22.11.2019
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