Süddeutsche Zeitung

Line Nagell Ylvisåkers Buch "Meine Welt schmilzt":Wieder Regen auf Spitzbergen

Lesezeit: 2 min

Die Journalistin Line Nagell Ylvisåker aus Spitzbergen hat aus dem rasenden Klimawandel in ihrer Heimat eine Abenteuergeschichte gemacht.

Von Aurelie von Blazekovic

Als Line Nagell Ylvisåker 2006 bei der Zeitung Svalbardposten anfing, war es das wärmste Jahr, das je auf Spitzbergen gemessen wurde. Spitzbergen, die Inselgruppe weit draußen im arktischen Meer, beinahe 1000 Kilometer vom norwegischen Festland entfernt, ist seit mehr als 15 Jahren die Heimat der Journalistin. Hier bekam sie zwei Kinder, baute mit ihrem Mann Trond ein gelbes Haus. Ihr Zuhause ist in Longyearbyen, dem mit etwas mehr als 2000 Einwohnern größten Ort Spitzbergens. Ein Haus, bei dem sich die Familie heute glücklich schätzt, dass es steht, wo es steht: außerhalb der Gefahrenzone.

Am 19. Dezember 2015 zerstörte eine Lawine eine Wohnsiedlung in Longyearbyen, zwei Menschen starben, darunter ein kleines Mädchen, das mit Ylvisåkers Tochter in den Kindergarten ging. Im folgenden Herbst gingen nach ungewöhnlich warmen Regentagen mehrere Erdrutsche ab, im nächsten Winter zerstörte schon wieder eine Lawine ein Wohnhaus in Longyearbyen. Es wird wärmer und feuchter auf Spitzbergen, in einer Gegend, die eigentlich eine arktische Kältewüste ist, in der es normalerweise so trocken ist, dass die Häuser hier keine Regenrinnen haben.

Wo im immerdunklen Polarwinter früher ganze Fjorde zufroren, fahren nun ganzjährig Schiffe

In Spitzbergen laufen die weltweiten Klimatrends im Zeitraffer ab. Während die globale Temperatur seit 1961 um 0,9 Grad gestiegen ist, ist sie in Spitzbergen um 5,6 Grad gestiegen, schreibt Line Ylvisåker. Wo im immerdunklen Polarwinter früher ganze Fjorde zufroren und so für die Schneemobile der Bewohner passierbar wurden, fahren nun ganzjährig Schiffe. Und wo sich Ylvisåker früher sicher fühlte, an diesem unwirklichen Ort weit nördlich des Polarkreises, da macht sie sich nun große Sorgen.

"Meine Welt schmilzt" beginnt undogmatisch, als Erkundung einer beunruhigten Bewohnerin. Sie trifft einen alarmierten Klimaforscher und einen klimawandelskeptischen Jäger, der schon 40 einsame Überwinterungen in der Wildnis Spitzbergens hinter sich hat. Sie bringt ihre Kinder beim Familienausflug vor Eisbären in Sicherheit, sammelt Fossilien, die die wechselhafte Klimageschichte Spitzbergens belegen, übergibt sich auf einem Forschungsschiff und nimmt an einer feierlichen Zeremonie im Saatgut-Tresor Spitzbergens teil. So wie die Wohnsiedlungen Spitzbergens muss der größte Saatgutbunker der Erde vor dem mittlerweile schmelzenden Permafrostboden geschützt werden.

Man folgt Ylvisåker gerne in die Arktis, in die Ausführungen darüber, was das schmelzende Meereis Spitzbergens für das Weltklima bedeuten könnte, welche unkontrollierbaren Prozesse das schwindende Eis an den Polkappen auslösen könnte. "Meine Welt schmilzt" ist eine so lehrreiche wie fesselnde Geschichte der Klimakrise. Gleichzeitig erzählt Ylvisåker von der Schönheit Spitzbergens, von einem Leben am Rande der Welt, von einem Ort, an dem die Natur sich in ihrer ganzen Übermacht zeigt.

In der Mitte des Buchs holt sich die frühere Vielfliegerin Ylvisåker im Gespräch mit einer Meteorologin noch die Absolution für eine Flugreise auf die Kapverden. Den Urlaub hatte sie gegen den Vitamin-D-Mangel im arktischen Winter für die Familie gebucht. Die Meteorologin nimmt es locker, sagt, man müsse eine Lösung für die Klimafragen finden, die einem nicht ständig ein schlechtes Gewissen mache. Ob Ylvisåker die Flugreise antritt, erfährt man nicht. Am Ende verkauft sie zumindest ihren Toyota Yaris, mit dem sie bisher über die Insel fuhr.

Einige Wohnsiedlungen Longyearbyens sind heute dauerhaft evakuiert, andere wurden mit vier Meter hohen Schneezäunen aus galvanisiertem Stahl vor Lawinen gesichert. Der Saatguttresor wurde mit Beton verstärkt, um ihn vor Schmelzwasser zu schützen. Der Wärmerekord von 2006 ist schon lange gebrochen, 2016 lag die Temperatur auf Spitzbergen viel höher als das aufgezeichnete Jahresmittel, um ganze 6,6 Grad.

Das Spitzbergen, das Ylvisåkers Urenkel bewohnen oder besuchen werden, wird anders aussehen. Weniger rosa- und lilafarbene Wintertage, mehr vom dunklen, gefährlich nassen Herbst. Vielleicht werden auf Spitzbergen wieder Bäume wachsen, wie vor Millionen Jahren schon mal. Vielleicht, schreibt sie, gibt es die Arktis dann nicht mehr.

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