Süddeutsche Zeitung

"Leben und Abenteuer von Jack Engle":Ein besonderes Schicksal

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Vor zweihundert Jahren wurde Walt Whitman geboren. Mit ihm begann die moderne amerikanische Dichtung. Erst vor Kurzem sind unbekannte Teile seines Werks aufgetaucht.

Von Nicolas Freund

Nicht nur die Gegenwart, auch die Vergangenheit wird derzeit von der Digitalisierung neu geordnet. Suchalgorithmen und Data-Mining machen in jahrhundertealten Texten komplett neue Bedeutungsebenen und Strukturen erkennbar, wenn zum Beispiel Worthäufigkeiten oder grammatikalische Strukturen im gesamten Werk Shakespeares statistisch ausgewertet werden können oder ganze Zeitungsjahrgänge mit einem Mausklick durchsuchbar sind.

Zachary Turpin, einem amerikanischen Doktoranden und inzwischen Assistenzprofessor an der University of Idaho, gelangen mit diesen Methoden vor drei Jahren gleich zwei Sensationen, als er das digitale Archiv der New York Times nach bekannten Pseudonymen Walt Whitmans und eigenwilligen Namen wie "Wigglesworth" durchsuchte, die in dessen Notizbüchern vorkommen. Fündig wurde er in Anzeigen, die ihn weiter auf The New York Atlas und The Sunday Dispatch, zwei lange eingestellte New Yorker Zeitungen, verwiesen. Der digitalen Suche auf gut Glück folgte die Recherche im staubigen Archiv, denn durchsuchen lässt sich digital natürlich nur, was auch digitalisiert ist und kurzlebige Zeitungen aus dem 19. Jahrhundert hat selbst Google noch nicht erfasst. In amerikanischen Bibliotheken wie der Library of Congress sind solche alten Zeitungen aber noch auf Mikrofilm verfügbar und tatsächlich wurde Turpin fündig: Im Atlas stieß er auf eine Kolumne Whitmans über die Fitness des Mannes, im Dispatch fand er einen ganzen Roman, "Leben und Abenteuer des Jack Engle", der dort 1852 als Fortsetzungsgeschichte erschienen war und, wie die Figuren- und Erzählungsskizzen in Whitmans Notizbüchern verrieten, ebenfalls von ihm stammen musste.

Um "Jack Engle" gab es ein absurdes Wettrennen unter deutschen Verlagen

Der neu entdeckte Roman handelt von einem jungen Mann, der in den 1850er-Jahren durch New York driftet, es mit fiesen Anwälten und verführerischen Frauen zu tun bekommt, über den Tod sinniert und seiner Herkunft auf die Spur kommt. Die Geschichte wirkt etwas schematisch und austauschbar, da sich Whitman an einigen, heute teilweise überkommen wirkendenen Romantraditionen orientiert. Der Untertitel lautet "Eine Geschichte aus dem New York der Gegenwart" und ein Teil der heutigen Faszination des Textes ist es, dass er auch 170 Jahren später dieses vergangene New York in die Gegenwart holt, wie man es von einem Zeitungstext erwarten kann, indem er zum Beispiel die zu großen Schuhe der Straßenjungen, einen herbstabendlichen Gottesdienst oder den Friedhof mit dem Grab Alexander Hamiltons beschreibt. Man mag in einzelnen Passagen schon Vorzeichen erkennen, von Whitmans wenig später begonnenem Hauptwerk "Leaves of Grass" und seiner Auseinandersetzung mit der Frage, was Amerika eigentlich ist.

Die bislang unbekannten Texte eines der größten amerikanischen Autoren sind inzwischen auch auf Deutsch erhältlich, "Leben und Abenteuer von Jack Engle" sogar in der mittlerweile dritten Übersetzung in drei Jahren. Denn kurz nach Erscheinen des Originaltexts in der Fachzeitschrift Walt Whitman Quarterly Review, begann ein absurdes Wettrennen unter deutschen Verlagen. Nachdem dtv, wo inzwischen auch die Fitnesskolumne "Der schöne Mann" erschienen ist, eine Übersetzung für 2018 angekündigt hatte, zogen der Manesse-Verlag und der Verlag Das kulturelle Gedächtnis ihre eigenen Übersetzungen immer weiter vor, bis sie schließlich schon im Frühjahr 2017 erschienen. Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli brachten für Manesse das heute etwas umständlich wirkende Englisch des Originaltexts in sehr klares Deutsch, für Das kulturelle Gedächtnis traf Stefan Schöberlein den Ton der Vorlage und ergänzte den Text um ein paar Kommentare. Beiden Übersetzungen merkte man die schnelle Arbeit an den Texten an, der viele Nuancen, Details und teilweise ganze Sätze des Originals zum Opfer gefallen waren.

Fast zwei Jahre später erscheint jetzt die Übersetzung des dtv-Verlags durch Jürgen Brôcan, der auch Whitmans "Grasblätter" ins Deutsche übersetzt hat. Sie muss als die maßgebliche gelten, schon alleine, weil sie vollständig ist und es ihr gelingt, fast alle Bedeutungsebenen und Nebensätze zu bewahren. Das klingt dann heute noch immer etwas umständlich, bewahrt aber auch die Fremdheit des alten Zeitungstextes: ",Und dein besonderes Schicksal ist es tatsächlich', fragte die Tänzerin, ,dass du nicht weißt, wer deine Eltern sind?' 'Das ist mein besonderes Schicksal, mag es gut oder schlecht sein', entgegnete ich."

Die Ausgabe hat außerdem einen kurzen, aber guten Kommentar, vor allem, was historische Ereignisse und Redewendungen angeht. Er macht aber auch ein wiederkehrendes "Odyssee"-Motiv in dem Roman aus. Außerdem finden sich im Anhang die Stellen in den Notizbüchern Whitmans, die inzwischen als Skizzen für den "Jack Engle" identifiziert wurden, ebenso wie einige Zeitungs- und Magazinartikel Whitmans, in denen sich dem Roman ähnliche Szenen, Motive und Stadtbeschreibungen wiederfinden lassen. Inzwischen auch ohne Algorithmus.

Walt Whitman: Leben und Abenteuer von Jack Engle. Roman. Herausgegeben und aus dem Englischen von Jürgen Brôcan. Dtv Verlag, München 2019. 224 Seiten, 22 Euro.

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SZ vom 31.05.2019
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