Süddeutsche Zeitung

Kunst und Fotografie:Sieben Soldaten sichern eine Ecke

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Berlin in der Revolution: Das Museum für Fotografie zeigt Pressefotos und Dokumente der Unterhaltungskultur aus den Jahren 1918/19. Die Berlinische Galerie erinnert an die Novembergruppe.

Von Jens Bisky

Wenn die Zeiten sich ändern, werden die Hüften gelenkig. So war es nach 1989, so war es 1918. Nach dem verlorenen Krieg, nach der Abdankung des Kaisers, als der Rat der Volksbeauftragten, die Arbeiter- und Soldatenräte, die Oberste Heeresleitung, von den Fronten Heimkehrende, neue Parteien und radikale Gruppen um Macht und Ordnung stritten, grassierte in Berlin die Tanzwut. Die neue Grippe, bemerkte ein Zeitgenosse, sei nicht spanischen, sondern englischen Ursprungs und heiße Foxtrott. Zur gleichen Zeit sah man die Kriegsinvaliden mit Krücken, Prothesen, in Rollstühlen auf den Straßen, und Werner Richard Heymann komponierte das Lied "Bein ist Trumpf".

Eine Ausstellung der Kunstbibliothek im Berliner Museum für Fotografie vereint nun Pressefotografien der revolutionären Ereignisse und Dokumente aus dem großstädtischen Amüsierbetrieb. Auf einem Foto der Gebrüder Haeckel aus dem November 1918 kommt beides zusammen. Sieben Soldaten sichern die Ecke Unter den Linden / Charlottenstraße. Unmittelbare Gefahr scheint nicht zu drohen, aber sie sind wachsam. Der eine, ganz außen, hat die Pistole gezückt, ein anderer beugt sich vor und hält das Gewehr, als rechne er damit, im nächsten Augenblick schießen zu müssen. Neben ihm hängt ein Plakat. Es wirbt für einen "Bunten Abend" im Berliner Konzerthaus, einem bekannten Vergnügungslokal. Das Nebeneinander von Revolution und Revue prägt auch eine Litfaßsäule im Januar 1919: die Amorsäle werben für "moderne Tanzvorführungen", die Deutsche Volkspartei präsentiert ihre Kandidaten zur Nationalversammlung, ein Plakat warnt: "Berlin, halt ein! Besinne Dich. Dein Tänzer ist der Tod."

Der politisch wie in Kunstdingen glänzend informierte Harry Graf Kessler hielt damals - nach den Kämpfen um Schloss, Marstall, Zeitungsviertel, nach dem Spartakusaufstand, kurz nach der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts im Tagebuch fest: "Geringer Eindruck der Revolution auf das grossstädtische Leben. ... Das Babylonische, unermesslich Tiefe, Chaotische und Gewaltige von Berlin ist mir erst durch die Revolution klargeworden, die im ungeheuren Hin und Her" ... nur kleine örtliche Störungen verursachte, wie wenn ein Elephant einen Stich mit einem Taschenmesser bekommt". Und so mochte es im März 1919 vielen, nicht Harry Graf Kessler, aber doch den Besuchern der Amüsierbetriebsstätten, nur geringen Eindruck machen, dass die proletarischen Viertel im Osten wie feindliches Gebiet behandelt und mit Staatsterror überzogen wurden.

Im Zentrum der Ausstellung und des großartigen Katalogs, herausgegeben von Ludger Derenthal, Evelin Förster, Enno Kaufhold, stehen die Fotografien Willy Römers und der Brüder Otto und Georg Haeckel. Sie hielten Demonstrationen, Versammlungen, Barrikaden, Tote, Zerstörungen fest und boten ihre Bilder den großen Verlagen der Zeitungsstadt an. Monat für Monat kann man die Ereignisse auf den Straßen nachverfolgen - und dann schauen, was Zeitungen, Zeitschriften berichteten, Theater und Kinos spielten. Keine These wird bebildert, keine neue Deutung zusammengezimmert. Die Besucher sind aufgefordert, genau hinzuschauen, das Zugleich von politischer Verhärtung und Lockerung der Sitten zu studieren. Im Kabarett "Schall und Rauch" sang Blandine Ebinger 1920 Friedrich Hollaenders "Fox macabre": "Unter der Erde da glimmt die Zündschnur, gebt nur Acht! / Mitten im Foxtrott, gibts einen Knax, und dann ist Nacht."

Nicht weit vom alten Zeitungsviertel entfernt, in der Berlinischen Galerie, dokumentiert eine Ausstellung die Schicksale der Novembergruppe, einer Vereinigung, die Ende 1918 entstand, die "radikalen bildenden Künstler" zusammenführen und "maßgebenden Einfluß auf die Entscheidung aller künstlerischen Fragen" erlangen wollte. Modernisierung der Institutionen, Demokratisierung der Künste - der Impuls trug immerhin zehn Jahre, dann verlor die Vereinigung an Bedeutung, 1935 wurde sie aufgelöst, die Kunstwerke verschwanden aus den Sammlungen.

Die Mitgliederlisten und Ausstellungskataloge - alljährlich präsentierte man Werke im Glaspalast am Lehrter Bahnhof - verzeichnen berühmte Namen: Rudolf Belling, Otto Dix, George Grosz, Hannah Höch, Mies van der Rohe, viele mehr. Die Konflikte waren ähnlich wie in anderen Künstlervereinigungen: Dada provozierte Empörung, 1921 drohte das Kultusministerium, die Novembergruppe von der Großen Berliner Kunstausstellung auszuschließen. Um einen Skandal zu vermeiden, verzichtete man 1921 auf zwei Sittenwächter erregende Bordellszenen, was wiederum beteiligte Künstler verärgerte. Der Katalog dokumentiert die Forschungsergebnisse. In der Ausstellung überraschen neben den Klassikern - "Stützen der Gesellschaft" von Grosz, Hannah Höchs Paradiesbild "Der Zaun", Modell des gläsernen Hochhauses Mies van der Rohes - Funde wie die Einladungen zu Kostümfesten des Vereins oder Filme.

In einem Ku'damm-Kino zeigte die Novembergruppe 1925 "absolute Filme", die auf Erzählung verzichteten und stattdessen die Wirkung von abstrakten Formen, Mustern, Bewegungen erprobten. Zu sehen waren Filme von Fernand Léger, Ludwig Hirschfeld-Mack, Hans Richter. In dieser Tradition wird Walter Ruttmann aus lauter Berlin-Aufnahmen seine "Sinfonie der Großstadt" schaffen. Auch Komponisten wie Hanns Eisler oder Kurt Weill haben ihre Auftritte in der Ausstellung, die leider das kulturpolitische Umfeld nur skizziert, die Novembergruppe kaum ins Verhältnis zu anderen Akteuren, Galerien, Verlagen, der Akademie, setzt.

Die stilistische Uneinheitlichkeit - von Erlösungsexpressionismus bis Abstraktion, von Dada bis Sachlichkeit, von Plakaten Max Pechsteins bis zu Skulpturen Bellings ist nahezu alles vertreten - wird interessant durch die Frage, was aus den Befreiungserfahrungen im Kunst-Alltag der Republik geworden ist. Die Architekten kultivierten in den Revolutionsmonaten Weltharmonieherstellungsvisionen. Beispiele aus dem Werk Max Tauts oder Wassili Luckhardts Entwurf für ein Volkstheater, das Modell der Sternkirche Otto Brantnigs stehen dafür. Schon 1924 aber entwerfen Hans und Wassili Luckhardt eine Großgarage für 1000 Autos. Von den kosmischen Utopien zur praktischen Massenverkehrsgestaltung - das ist kein Rückschritt. Der Weltaugenblick des Neuen Berlin zwischen 1925 und 1932 bezog seine Kraft aus den Aufbruchsenergien des November 1918. Das Babylonische sollte gestaltet werden. Beide Ausstellungen zeigen ein erfreulich konkretes Bild der Stadt, die immer interessanter war als die Babylon-Klischees.

Freiheit. Die Kunst der Novembergruppe 1918 bis 1935. Berlinische Galerie, bis 11. März. Der Katalog kostet 34,80 Euro. Berlin in der Revolution 1918/19. Fotografie, Film, Unterhaltungskultur. Museum für Fotografie, bis 3. März. Der Katalog kostet 45 Euro.

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Quelle:
SZ vom 29.01.2019
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