Süddeutsche Zeitung

Kunst:Subjektive Weltgeschichte

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Politisch, engagiert, dokumentarisch: Die Londoner Tate Gallery zeigt die Arbeiten der diesjährigen Turner-Preis-Nominierten. Alle von ihnen sind dem weltzugewandten, engagierten Video-Realismus zuzurechnen.

Von Catrin Lorch

Es kommt nicht häufig vor, dass man in der Kunst exakte Voraussagen treffen kann. Aber wenn in diesem Jahr der Turner-Preis vergeben wird, dann gibt es eine fünfzigprozentige Chance, dass ein Werk gewinnt, das wegen der Documenta, der Weltkunstschau, die im vergangenen Jahr in Kassel stattfand, nominiert wurde. Und mit hundertprozentiger Sicherheit wird es ein Kunstwerk sein, das man dem "Video-Realismus" zurechnen könnte, also ein Film oder eine Videoinstallation, die der Wirklichkeit verpflichtet ist. Die Londoner Tate Gallery zeigt zur Zeit die Arbeiten der nominierten Künstler.

Dieser Video-Realismus ist eine Kunstform, die sich unauffällig entwickelt hat, inzwischen aber als das Medium der Stunde gilt. Kaum eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst - vor allem die vielen Biennalen oder Gruppenausstellungen - kommt ohne diese Filme aus. Ihre Tradition reicht zurück ins 19. Jahrhundert, zu Gustave Courbets "Kornsieberinnen" und seinem "Steinklopfer" oder Honoré de Balzacs Romanen über Bauern, Krebsfischerinnen und Kleinbürger.

Früher filmten die Künstler Kunst, heute filmen sie Welt

Die Schriftsteller und Künstler des Realismus arbeiteten schonungslos am Bild ihrer Zeit und verzichteten bewusst auf alle Theatralik, worauf das Publikum schon damals zunächst mit Unverständnis reagierte. Es fand die Erzählungen und Gemälde zuweilen einfach banal.

Bei der Documenta 14 in Kassel reagierte die Öffentlichkeit ebenfalls irritiert bis gelangweilt auf die zahlreichen Aufnahmen von chinesischen Bergleuten oder europäischen Kriegsveteranen. Der jetzt für den Turner-Preis nominierte Naeem Mohaiemen zeigte unter dem Titel "Tripoli Cancelled", wie er stundenlang einen stillgelegten, griechischen Flughafen durchstreift und rekonstruierte - vor allem aus Nachrichtenbildern - in seinem 89 Minuten dauernden "Two Meetings and a Funeral" die internationalen Konferenzen blockfreier Staaten in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Eine Erzählung von der Dekolonisierung, in der auch solche politischen Utopien aufscheinen, die in der Weltgeschichte keinen Ort fanden.

Die Recherchen des von Eyal Weizman gegründeten Kollektivs Forensic Architecture fokussieren ebenfalls auf Ereignisse, die im Strom der täglichen Nachrichten untergehen. In Kassel untersuchten die Künstler, Architekten und Filmemacher für die Documenta noch einmal die Ermordung von Halit Yozgat durch die Terrorgruppe NSU und kamen in der softwaregestützten Rekonstruktion zu dem Ergebnis, dass der deutsche Verfassungsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit involviert war.

In London beschäftigen sich Forensic Architecture nun mit einem aktuellen Fall aus dem Nahen Osten. "The Long Duration of a Split Second" betrachtet - mit authentischen Aufnahmen und Computersimulationen - die polizeiliche Durchsuchung eines Beduinendorfes in Israel, die mit dem Tod eines Dorfbewohners endete. Die Suche nach Wahrheit wird als künstlerische Aufgabe begriffen.

Adrian Searle lobte im Guardian die diesjährige Schau der Nominierten als politischste Ausstellung in der Geschichte des Turner-Preises. Doch während der erfahrene Kritiker es offensichtlich genoss, dass er einen halben Tag brauchte, bis er alle Werke gesehen hatte, fremdelt das Publikum sichtbar mit der Präsentation in der Londoner Tate Gallery, einem klassischen, säulenbestandenen Bilderhaus. Die BBC - um Kunstvermittlung bemüht - entsandte sogar die Oxford-Althistorikerin Mary Beard, eine graue Eminenz der Intellektualität, die gemeinsam mit den Videokünstlerinnen Jane und Louise Wilson ihre offen eingeräumten Vorbehalte - "Ist es unhöflich, nach ein paar Minuten einfach weiterzugehen?" - überwand.

Die Kuratoren haben dem Bilderfluss zudem einen stabilen Rahmen gezimmert: In der Mitte der Ausstellung ist eine Lounge mit Sofas und einem niedrigen Tisch eingerichtet, auf der historische und politische Literatur neben Katalogen ausliegt. Von dort öffnen sich vier Eingänge in schallgedämmte und mit aller technischen Raffinesse eingerichtete Säle, in denen man den langen, sehr privaten Aufnahmen von Charlotte Prodgers Installation "Bridgit" folgen muss, bis man versteht, wie sich aus Katzenbildern, Berglandschaften und Waldpanoramen eine queere Identitätsfindung zusammenpuzzelt.

Einen Saal weiter entfalten sich dann die wandfüllend projizierten 35-Millimeter-Filme von Luke Willis Thompson mit der Präsenz von Monumenten. Man sieht dort, untermalt vom Surren der Projektoren, nichts als stumme Porträts, beispielsweise das des Enkels von Dorothy "Cherry" Groce, die 1985 von der britischen Polizei in ihrer Wohnung in Brixton erschossen wurde. Oder Graeme, den Sohn von Joy Gardner, die in Crouch End starb, als sie bei einer Durchsuchung festgenommen wurde. Oder Diamond Reynolds, die den Tod ihres Freundes während einer Schießerei mit der Polizei in Minnesota live auf Facebook veröffentlichte.

Die Zusammenschau der Turner-Preis-Nominierten in diesem Jahr gibt diesen allesamt politisch motivierten, stets auch entschlossen Partei ergreifenden Werken Raum. Es ist der Moment, in dem der zeitgenössische Video-Realismus unübersehbar wird. Denn Video war - als Technik - in der Kunst zunächst einfach dazu da, Performances aufzuzeichnen oder filmische Inszenierungen zu bewahren und beschäftigte sich dann bis in die Neunzigerjahre vor allem mit dem eigenen Medium, also beispielsweise Überwachung, Fernsehen oder Internet. Doch dann entdeckten die Künstler die dokumentarischen Qualitäten des elektronischen Bildes. Im Video oder Film konnte man sich lokal verorten, die anderen Kunstobjekte wort- und bildreich kontextualisieren. Und auch das Publikum wurde zunehmend vertrauter und versierter im Umgang mit dem Bewegtbild.

Das Kunstvideo ist keine Nachrichtensendung. Genau darin liegt seine Qualität

Von klassischen Dokumentationen unterscheidet sich der zeitgenössische Video-Realismus schon deswegen, weil er - subjektiv wie alle Kunst - sich nicht auf Regeln verpflichten lässt. Das irritiert immer wieder Journalisten, die fragen, warum die Kunst unausgewogen von der Welt berichten darf, die Fernsehnachrichten aber nicht. Dass Luke Willis Thompson der Trauer einen langen, stummen Auftritt bietet - und die Fakten zu britischer Polizeigewalt in die Kulissen verbannt.

Doch genau das ist die Qualität dieser Werke. Das Kunstvideo ist keine Nachrichtensendung, und das Museum keine öffentliche Rundfunkanstalt mit paritätischen Aufsichtsgremien. Kunst ist der Raum, in dem gesagt werden darf, was ein Künstler - nur seinem eigenen Werk verpflichtet - über seine Welt, seine Zeit sagen muss. Die Jury, die in diesem Jahr vier Künstler für den wichtigsten Kunstpreis der Welt nominiert hat, die zutiefst der Gegenwart und ihren Traumata zugewandt sind, hat gut gearbeitet. Wer von ihnen nun ausgezeichnet wird, ist nach diesem Statement gar nicht mehr entscheidend.

Turner Prize 2018. Tate Gallery, London. Bis 6. Januar. Der Gewinner des Preises wird an diesem Dienstag abend bekanntgegeben.

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Quelle:
SZ vom 04.12.2018
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