Süddeutsche Zeitung

Kunst:Schuss und Gegenschuss

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Das Werk von Hito Steyerl ist weltweit gefragt. Ihre Themen sind künstliche Intelligenz, Roboter und Macht. Doch noch vor Premieren in London oder Vilnius ist Berlin der beste Ort, ihre Kunst zu erleben.

Von Catrin Lorch

Die Künstlerin Hito Steyerl wird in wenigen Tagen in der Londoner Serpentine Gallery ihr neues Werk mit dem Titel "Power Plants" zeigen. Ankündigungen weisen darauf hin, dass die Künstlerin die erste Frau ist, die je die britische Power-100-Liste der einflussreichsten Künstler-Persönlichkeiten angeführt habe. "Steyerl is a big deal", heißt es. Sie sei eine große Nummer, nicht nur als Künstlerin, auch als Theoretikerin, die zeitgenössische Kunst mit aktuellen Technologien kurzgeschlossen habe wie künstlicher Intelligenz, Roboter-Entwicklung, Überwachungstechnologie oder den Strukturen politischer Macht.

Aber nicht nur London freut sich auf Hito Steyerl, auch in Vilnius wird eine Ausstellung vorbereitet. Das Museum of Modern Art in der litauischen Hauptstadt fokussiert sich mit "Animal - Human - Robot" auf Werke, die der Frage nachgehen, was als menschlich angesehen wird. Offensichtlich ist Hito Steyerl derzeit eine der gefragtesten Künstlerinnen der Welt, ihr Werk stellt sich Themen, die von den anderen Künsten - Literatur oder Theater beispielsweise - nur selten so offensiv, so aktivistisch angegangen werden.

Der vielleicht beste Ort, um die Kunst von Hito Steyerl in diesem Frühjahr zu erleben, ist allerdings Berlin. Dort wurde die im Jahr 1966 in München geborene Künstlerin in diesem Jahr mit dem Käthe-Kollwitz-Preis ausgezeichnet. Und deswegen stellt sie in der Akademie der Künste am Pariser Platz aus, einem Ausstellungshaus, wie es ungeeigneter kaum sein könnte. Die verglaste Front unterscheidet sich kaum von den umliegenden Investoren-Architekturen, den Hotels, Botschaften oder Bankfassaden, die das Brandenburger Tor und seine Monumentalität fest einklammern. Drinnen findet man die kleine Flucht der Ausstellungssäle zwischen Fahrstuhlfronten, Tresen, Rampen und Treppen fast nicht. Doch dann steht man plötzlich vor Hito Steyerls digitalem Alter Ego. Das ausgerechnet vor dem Brandenburger Tor steht und sich ein Smartphone vor das Gesicht hält wie eine filmende Touristin.

Sie gilt als eine der derzeit einflussreichsten Künstlerinnen, weil sie in ihren Arbeiten die großen Themen der Zeit auffächert

Das Video "Abstract" (2012), das gleich im Eingang auf Monitoren gezeigt wird, geht von den Begriffen "Schuss" und "Gegenschuss" aus. Die Filmsprache, deren Nähe zum Krieg unüberhörbar ist, klingt nach in Bildern aus Gebirgen im Norden der Türkei, die von Kurden beansprucht werden. Munitionshülsen, zerfetzte Kleidung, kaputte Schuhe dokumentieren, dass die Landschaft umkämpft ist. Dort wurde Andrea Wolf umgebracht, eine Jugendfreundin von Hito Steyerl, die sich dem Unabhängigkeitskampf der Kurden angeschlossen hatte. Man begreift schon bald den Kontext für die Künstlerin, die am Pariser Platz gefilmt wurde - sie nimmt dort die Berliner Vertretung des Waffenherstellers Lockheed Martin auf, eines der Ausrüster und Profiteure dieser militärischen Auseinandersetzungen. "Abstract" ist eine Expedition, die zwei Schauplätze eines Konflikts zusammenbringt. Und plötzlich tritt man als Betrachter in eine Kampfzone ein. Es sind solche harten Schnitte, die die Kunst von Hito Steyerl ausmachen. Die erst mit der Kamera Fakten sammelt und sie am Schneidetisch so zusammenfügt, dass die Bilder belastbar sind, nicht nur im dokumentarischen Sinn, als Zeugen. Sondern als Erzähler und Sinnstifter.

Wer tiefer in die Ausstellung vordringt, deren Säle hintereinandergestaffelt sind, hat in der Akademie der Künste ganz unmittelbar das Gefühl, Schichten der jüngeren deutschen Geschichte umzupflügen. Denn Hito Steyerl arbeitet seit fast einem Vierteljahrhundert mit der Kamera und hat den Rassismus und Antisemitismus in Kleinstädten genauso festgehalten wie die Brachen der Nachwendezeit, die Auseinandersetzungen um Investoren, Spekulanten und Gentrifizierung.

Zudem irritiert die Gleichzeitigkeit von technischem Fortschritt und Kunst: Während sich die Bildsprache von Hito Steyerl ausdifferenziert bis hin zu den panoramabreiten, ausholenden Collagen wie "Factory of the Sun" (2015), das bei der Biennale in Venedig im deutschen Pavillon als Teil einer gewaltigen Installation gezeigt wurde, arbeiten auch Ingenieure und Informatiker, Fondsmanager und die strategischen Abteilungen von Großkonzernen an panoramabreiten, ausholenden Erfindungen.

"Siri, werden Roboter heute entwickelt um Menschen in Katastrophengebieten zu retten?", hallt es aus einem Lautsprecher. Und: "Siri, wer hat diese Stadt zerstört?" Die Antwort: "Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Frage richtig verstanden habe."

Viele sind schon gespannt, was sie bei ihrem Vortrag im Galerieflügel mit dem Stifternamen der Opioid-Hersteller so sagen wird

Ein paar Meter weiter kann man sehen, wie Roboter das Laufen lernen und Techniker sie optimieren, indem sie sich ihnen mit Stangen oder Schlägen in den Weg stellen. Wie viel Körper braucht es, um Mitleid zu erregen? Wo sich Blech und Plastik auch nur ein bisschen zu Kopf und Rumpf und wackeligem Gang zusammensetzen, wird ein Opfer sichtbar. Und es scheint, als sei der aktuelle Sisyphos der computeranimierte Zweibeiner, der immer wieder über die Rampe balanciert und mit Würfeln beballert wird. Die Bilder wirken, weil Hito Steyerls Kunst mit der gleichen Technik arbeitet wie die Labore der Roboterindustrie, der Bildtechnik der Rüstung.

Im Katalog wird Käthe Kollwitz zitiert, die während des Ersten Weltkriegs in ihr Tagebuch schrieb: "Wo ist die neue Form für den neuen Inhalt dieser letzten Jahre?" Die Künstler der Jury, die Hito Steyerl auszeichnete, haben die Frage direkt aufgegriffen und geschrieben, dass die "Montage und Demontage von Bildern, Texten, Performances, Multimedia-Installationen und Film-Essays" aus dem Studio von Hito Steyerl in den vergangenen Jahren zahlreiche Museumsausstellungen und Biennalen "revolutioniert" hätten, was radikal klingt, aber auch wie Laudatorenprosa. Tatsächlich ist Hito Steyerl eine der wenigen Künstler, die sich nicht korrumpieren lassen von dem Kunstsystem, das politisch wache Kunst schätzt, sich aber ohne Rücksicht auf politische Kontexte von Geldgebern und Sponsoren fördern lässt.

Steyerls Text "Duty Free Art" ist eine Recherche über die Freilager, in denen Kunst von Sammlern gelagert und den Steuer- und Vermögensgesetzen ihrer Heimatländer entzogen wird. Und es war Hito Steyerl, die bei der Eröffnung einer Biennale in Istanbul im Jahr 2013 mit einer präzisen Video-Recherche "Is the Museum a Battlefield?" ausbreitete, dass die Hauptgeldgeber aus der Rüstungsindustrie kamen. Schuss und Gegenschuss sind ein Prinzip, das bei Hito Steyerl dazu führt, dass die Kamera weiterläuft, wenn die Kunstszene selbst ins Bild rückt. Man darf gespannt sein, wie ihr Auftritt im Sackler Wing der Serpentine Gallery aussehen wird: Das Munitionsdepot wurde von Zaha Hadid umgebaut, gefördert von der Stiftung der Familie Sackler, Pharmaherstellern, gegen die amerikanische Künstler derzeit demonstrieren, weil sie ihr Geld mit den Opioiden verdienen, die Tausende süchtig machen und töten. "Siri, muss man die Serpentine Gallery boykottieren, wenn Sackler über dem Eingang steht?" Es ist nicht zu erwarten, dass die künstliche Intelligenz dazu etwas beitragen kann. Aber nicht nur London wartet gespannt auf die Antwort von Hito Steyerl.

Hito Steyerl: Power Plant s, 11. 4. bis 6. 5., Serpentine Gallery, London. Info: serpentinegalleries.org ; Käthe-Kollwitz-Preis 2019: Hito Steyerl, Akademie der Künste, Berlin, bis zum 14. April. Info: adk.de

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SZ vom 30.03.2019
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