Süddeutsche Zeitung

Kunst:Schöne Pannen

Lesezeit: 7 min

Was ist eigentlich Internetkunst? Es bedeutet heute nicht, irgendwelche Werke einfach im Netz abzubilden - sondern die digitale Struktur, die uns umgibt, souverän zu unterwandern.

Von Bernd Graff

Kunst im Internet, das wollte Jon Ippolito zu Beginn des Jahrtausends klargestellt wissen, bedeutet nicht, dass jemand Fotos von realen Objekten auf Server hochlädt, um daraus durchklickbare Bildergalerien zu machen. Nein, Kunst im Netz, so der ehemalige Kurator des Solomon R. Guggenheim Museums in New York, ist eben kein "neumodisches Outlet für den Bilderverkauf", sondern "Innovation, die darauf basiert, die neue Technik zu missbrauchen".

Wow! Da gibt es so etwas wie ein Internet für alle gerade mal an die zehn Jahre lang, und schon fordert jemand von der Kunst, diese neue Technologie zu missbrauchen. Das jedenfalls war die These, die in Jon Ippolitos maßgeblichem Essay aus dem Jahr 2002 "10 Mythen zur Internetkunst" ausgebreitet wird. Denn tatsächlich dachte man damals oft - nicht nur in der Kunst -, dass dieses neuartige World Wide Web nichts anderes sei als eine Fortsetzung des Straßenschaufensters oder der Galerie-Vernissage mit den Mitteln vernetzter Computer.

Damit aber, so Ippolito, werde nicht mehr geschaffen als die Nutzung von neuer Technik für alte Zwecke. Innovative Netz-Kunst entstehe hingegen, wenn man die "ideologische Verpackung" des Mediums abstreife und es gegen den erwarteten Gebrauch einsetze. Nam June Paik habe ja auch einen Magneten auf Fernsehröhren gehalten, um die Bilder zu deformieren. Er habe sich so das TV-Bild angeeignet und die Illusion widerlegt, die Sendeanstalten besäßen die alleinige Kontrolle über die von ihnen produzierten Bilder.

Was Ippolito dann für mustergültige Internetkunst hielt, fand sich vor allem auf den Servern des äda'web. So heißt das Mitte der Neunzigerjahre aufgesetzte Kunst-Portal des Walker Art Centers in Minneapolis. Diese Webseiten gibt es heute noch. Sie wurden seit damals kaum verändert oder weitergepflegt, sie befinden sich also immer noch im klassischen HTML-Zustand der Neunzigerjahre. Darum muten sie heute pixelig und uralt an. Ja, manche dieser Kunstseiten raten dazu, für die Betrachtung doch bitte den Browser "Netscape 3" zu nutzen. Den gab es bis 1997.

Wir müssen lernen, Perspektiven und Denken zu teilen wie einen Programmcode, den wir benutzen

Entsprechend muten die Klick-Kunst-Arbeiten heute rührend unbeholfen an und textlastig. Eine "Überwachungs"-Seite etwa fragt Nutzernamen ab, um sie dann alphabetisch sortiert auf einer Übersichtsseite mit den Daten aller anderen anwesenden Nutzer anzuzeigen. Eine "Jackpot" genannte Seite funktioniert wie eine Slotmachine, sie lädt auf Knopfdruck zufällig ausgesuchte Webseiten in nebeneinanderliegende Fenster. Wem vergleichbare Inhalte präsentiert wurden, hatte dann irgendetwas Virtuelles gewonnen. Doch diese angeblich "zufällig ausgewählten" Webseiten im Jackpot-Programm existieren heute meist nicht mehr. So findet die Slotmachine oft keine einzige Seite und meldet nur "Server Error - Dateien nicht gefunden". Sieht so der Technikmissbrauch aus, der Ippolito damals vorschwebte?

Vielleicht kommt man der frühen Netzkunstsache ja näher, wenn man sich auf einem der bedeutendsten Kunstereignisse der Welt umsieht. Denn unter der Bezeichnung "net.Art" firmierten 1997 die ersten Formen von Internetkunst auf der "documenta x". Doch auch hier, wie beim äda'web, galt das Künstlerinteresse in erster Linie den neuen Möglichkeiten der Verlinkung von Inhalten. In einem Vortrag des Jahres 2002 führt der Kunsthistoriker und Kurator Christian Schoen dazu aus: "Zentrales Thema der Netz.kunst der 90er-Jahre ist das Netz selbst und die damit verbundenen neuen Möglichkeiten der Kommunikation, Interaktion und Distribution. Das künstlerische Medium als Thema und der spielerische und ironische Umgang mit seinen kreativen Möglichkeiten waren seit Dada und Futurismus zentrale Motive in der Kunst. Diese Selbstreferenzialität ist vielleicht ein Kennzeichen für den Umgang mit neuen Medien schlechthin." So belegt diese frühe Digital-Kunst vor allen Dingen, dass vor aller Subversion, die Ippolito vorschwebte, erst einmal die künstlerische Aneignung des neuen Mediums und seiner Möglichkeiten stand.

Damals haben sich Künstler am Internet gerieben. Die neuen Kommunikations- und Darstellungsformen wurden ausprobiert, getestet. Und dem Publikum wurden weiterhin Werke präsentiert - nur eben jetzt über Computer im Internet. Dieses grundsätzliche Vertrauen in abgeschlossene Werke merkt man den frühen Gehversuchen heute an. Denn überraschend sind sie gar nicht mehr, sondern fast schon bewegend historisch. Die Frage lautet darum jetzt: Wie arbeiten Künstler eigentlich heute, wenn sie im und mit und über das Netz arbeiten? Was ist den Digital-Artisten heute wichtig, worauf konzentrieren sie sich? Wie nutzen sie das Web - als Medium, als Leinwand?

Die erste Auffälligkeit heute: Künstler sehen im Netz längst nicht mehr das neue Werkzeug, das man ebenso umständlich wie demonstrativ handhabt. Das Internet ist ja zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Jedoch zu einer, die keine Euphorie und kein Wohlbehagen auslöst. Künstler begreifen das Netz heute als die prominente Metapher für die allumschließende Datenwolke, für den großen Algorithmus, der uns alle ausspioniert und zu beherrschen droht, für das aus Silicon Valley stammende (und von dort gesteuerte) Narrativ, das uns alle umschließt und von dem wir viel abhängiger sind, als wir meinen.

Darum setzen Künstler heute selber Code ein: Sie programmieren Webseiten, um die oft als Bedrohung wahrgenommene Struktur des Netzes hervorzuheben. Mit ihren Arbeiten rebellieren sie dagegen, führen sie ad absurdum, um sie transparent zu machen. Kunst im Netz ist heute da, wo Ippolito sie schon damals haben wollte. Doch diese Kunst ist Code, der wieder unmittelbar auf die (analoge) Wirklichkeit gerichtet ist. Insofern thematisiert Netzkunst heute zugleich das Netz wie den Betrachter. Sie ist also beides: Souveräner Gebrauch und Subversion des Digitalen.

Ein Beispiel hierfür, es ist zugleich das mit den meisten Preisen versehene, ist "Clouds" (betreut von James George Jonathan Minard) aus dem Jahr 2014, eine interaktive Dokumentation, für die 40 Künstler, Designer, Hacker ihr Code-Wissen zusammengetragen haben, um zu belegen, was datengestütztes Storytelling und Design zur Zukunft des Objekts und des Porträts beitragen können. Die Botschaft: Die Zukunft in virtuellen Umwelten wird nicht linear sein. Unser Denken, unsere Kommunikation werden nicht linear sein. Wir teilen unsere Begriffe, Perspektiven wie den Code, den wir benutzen.

Dazu gehört nicht nur ein gewisses Nerdtum, sondern auch eine Portion Humor. Darius Kazemi, ein Internetkünstler, der sich ironisch "Content Provider" (Inhalte-Anbieter) nennt, hat seine Netz-Aktionen unter das Label "Tiny Subversions" gestellt: "kleine Unterwanderungen". So will er eine eher befremdliche Internet-Kunst schaffen, die zum Denken anregt, aber er will keine Werke schaffen. Er operiert etwa mit "Bots", also kleinen Programmen, die eigenständig soziale Netzwerke wie Twitter bespielen. Einen Bot hat er "Last Words" genannt, er befüllt eine Webseite mit den "Letzten Worten" der männlichen Delinquenten des "Texas Department of Criminal Justice" (TDCJ), die sie vor ihrer Exekution gesprochen haben. Aber nur mit denjenigen Worten, in denen "love" vorkommt. Das TDCJ veröffentlicht alle Deliquentensätze lediglich bürokratisch wie bloße Wörter; Kazemis Bot erhebt sie zu den "Letzten Worten" todesgewisser Menschen: "Love is patient, love is kind", "I love you with my heart and soul", "I thank you for the love you gave me", "I love you all". Andererseits bricht aber Kazemis Programmierung diese Sätze wiederum auf die Routinen von Automaten herunter, die eine Webseite nicht mit dem semantischen Drama der Hinrichtungsbeichte, sondern mit maschinell gesuchten und lediglich umkopierten Zeichen bestücken. Die Bedeutungsebene der (ebenso maschinell vollstreckten) Exekutionen weht ihnen im Nebel aus Nullen und Einsen hinterher. Das erst macht die Inhumanität der Todesurteile sichtbar.

Kazemis berühmtester Bot ist der "Random Shopper", der eigenständig, aber wahllos im Amazon-Store einkauft. Das macht er, um den Empfehlungsalgorithmus des Unternehmens in Konfusion zu bringen, der ja nach Kaufverhaltensprofilen sucht. Hier findet er nichts, da nach keinem Muster eingekauft wird. Trotzdem, so Kazemi, begannen Amazons Routinen, irgendwann Empfehlungen auszusenden, die ihm "wie das Alternativ-Universum zu dem, was ich selber kaufe" vorkommen.

Ein anderer Bot postet Permutationen des verqueren Satzes: "You never did the Kenosha Kid", die sich nur in ihrer Interpunktion unterscheiden. Alle zwei Stunden erscheint eine neue Version auf Twitter. Satz und Permutations-Idee stammen aus Thomas Pynchons 1973 erschienenem Roman "Die Enden der Parabel". Pynchon hatte in seinem Buch nicht genug Platz für alle Möglichkeiten, die sechs Wörter durchzuinterpunktieren - Twitter aber verkraftet dies problemlos. Mehr als neuntausend Versionen sind hier schon aufgelaufen. "You—never, did! The, Kenosha kid.", "You never. Did the Kenosha? Kid?", "You! Never did? The, Kenosha. Kid!" So penetriert ein postmodernes Kleinkunstkunstwerk, das man wie die Mitteilungen seiner Freunde abonnieren kann, mit minimalem Digital-Aufwand einen Alltagsnachrichtendienst - ein weiteres Beispiel dafür, was Kazemi "Artificial Stupidity", programmierte Dummheit, nennt.

Dazu könnte man auch die Arbeit von Jip de Beer zählen. Der Niederländer lässt einen Computer in seinen "Rapping.Reviews" die Film-Kritiken von Nutzern des Filmportals imdb.com auslesen, um sie, gereimt von Bots, in sogenannten Battles gegeneinander antreten zu lassen: Die positiven Kritiken bekämpfen nun singend die negativen und umgekehrt. Ein Spiel der gereimten Sinnlosigkeit. In der Summe besagen sie dann nur noch, dass die Wahrnehmung der Blockbuster aus der Traumfabrik massenkompatible Reaktionen hervorruft, mit denen lediglich ein Bot noch etwas anfangen kann.

Es geht vor allem um den Einfluss des Netzwerks auf uns selbst

James Bridle geht da - wie soll man sagen - den umgekehrten Weg. Er überträgt Daten aus dem Netz auf die wirkliche Welt. Sein bekanntestes Project sind die "Glitches", die Bilder-Pannen, die entstehen, wenn Satelliten aus dem All Aufnahmen von der Erdoberfläche machen. Bridle hat die Glitches im Rahmen seiner Talks zu den "New Aesthetics" 2012 auf der SXSW-Conference in Texas vorgestellt.

Gemeint sind Aufnahmen von bewegten Objekten, etwa Flugzeugen oder Drohnen, die sich zwischen Satellit und Erdoberfläche befinden in der Zeitspanne, in der die Satelliten aus den Daten ihrer verschiedenen Sensoren eine einzelne Aufnahme zusammensetzen. Denn Satelliten "fotografieren" nicht mit gewöhnlichen Kameras, sondern sie komponieren ihre Bilder aus einem Set von unterschiedlichen Frequenzen, Wärme gehört etwa auch dazu. Ein Prozess, den man "panchromatic sharpening" zur Erstellung hochauflösender farbiger Bilder nennt. Befindet sich nun zum Zeitpunkt dieses Prozesses ein sich schnell fortbewegendes Objekt unter dem Satelliten, dann erfassen die nacheinander aufzeichnenden Satellitensensoren das Objekt an unterschiedlichen Stellen im Raum, und das Gesamtbild zeigt ein Regenbogenobjekt. Diesen Schatten überträgt der Künstler nun wieder real und ganz analog auf die Stelle der Erdoberfläche, über der er fotografiert worden ist.

Bridle formuliert dazu: "Die New Aesthetic ist nicht oberflächlich, sie hat nichts mit Schönheit oder Oberflächenbeschaffenheiten zu tun. Sie engagiert sich politisch, sie artikuliert die Politisierung von vernetzten Technologien und versucht, diese Dinge zu erforschen. Wo viele nur Inkohärenz und Unlesbarkeit zu sehen scheinen, artikuliert die New Aesthetic die tiefe Kohärenz und Vielfalt der Verbindungen und Einflüsse des Netzwerks auf uns selbst." Damit stellt sich Internetkunst heute also in den Dienst einer Erkenntnis, die es wiederzuerlangen gilt. Die Übersicht über das große Ganze des Digitalraums ist im Kleinklein der Vernetzung verloren gegangen. Der Intellekt ist gefordert. Denn angesichts der gewaltigen und rasanten Verschiebungen im Bereich digitaler Technologien wird nach einem Instrumentarium gesucht, die allumfassende Struktur - nicht eine einzelne technologische Entwicklung -, eine globale Struktur, die uns beherrscht und unser Leben bestimmt, wieder in den Blick und auf den Begriff zu bekommen.

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Quelle:
SZ vom 24.02.2017
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