Süddeutsche Zeitung

Kunst:Eisberg voraus

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Im Zweifelsfall ist das Material wichtiger als die Identität des Künstlers: Eine Schau in Frankfurt zeigt Arbeiten der amerikanischen Bildhauerin Bunny Rogers.

Von Catrin Lorch

Der Kalmar gilt ja erst seit Kurzem als "Thema". Doch haben die naturkundlichen Wissenschaften, die als die großen Erzähler der Gegenwart zu gelten haben, in der jüngeren Vergangenheit einiges an Erkenntnissen aus den Bereichen Biologie, Ozeanografie, aber auch Neurologie beigetragen. Der Kalmar ist jetzt eine Lieblingsfigur moderner Mythen, ein Stoff aus dem Geplauder zusammen gekocht wird, während man die Krakenarme des Cervice-Vorspeisentellers in immer feinere Scheiben schneidet. Beispielsweise haben Forscher Tintenfische dabei beobachtet, wie sie pastellhelle glatte Steinchen vor ihren Höhlen gefällig anordnen. Die hochsensiblen Augen der Tiere können, so heißt es, in der Schwärze der Tiefsee Details erkennen, die sogar der modernsten Kameratechnik verborgen bleiben. Und übrigens hat ein ausgewachsener Oktopus die emotionale Feinfühligkeit eines vierjährigen Kindes. Zumal Tintenfische genau so viele Neuronen wie Menschen besitzen und - so eine These der Hirnforschung - nur deswegen keine Zivilisationen begründen, weil ihr Leben so kurz ist. Es lohnt nicht.

Bekannt wurde Bunny Rogers mit einer Trilogie zum Amoklauf in der Columbine Highschool

Das sind die Informationen, die einem durch den Kopf schwimmen, wenn man an Bunny Rogers "Giant Squid" entlang geht; man hat Zeit bei der Umrundung der Skulptur, sie ist viele Meter lang. Noch feucht liegt das naturalistisch geformte Unterwassermonster da, seine langen Arme münden in Pfützen, die auf dem Beton des Frankfurter Ausstellungsraums Zollamt MMK als dunkle Flecken auftrocknen. Einmal am Tag wird Wasser nachgegossen, ein Grund, warum die mit Neonfarbe besprühte Monumentalplastik nicht wie ein Theater- oder Filmrequisit wirkt, sondern in lebensechter Weise tot und gestrandet.

Je tiefer man in das Dämmerlicht des von Backsteinpfeilern gegliederten Saals eindringt, desto kälter wird es. Das sanft leuchtende weiße Gebirge an der Stirnwand könnte man zunächst für eine Projektion halten oder einen Brocken Kulisse aus Kunststoff oder Gips. Doch strahlt "Mount Olympia" eine gewaltige Kälte aus und ist von einer zarten Schicht aus Eiskristallen überzogen - was weniger an einen bei Gefriertemperatur konservierten Gletscherbrocken erinnert, als an die vereiste Rückwand eines Kühlschranks. Das kleine Habitat aus Oktopus und Eisberg ist von einem Staketenzaun eingegrenzt, er hat etwas von der Ruhe eines Friedhofs oder eines Museums und ist so elegant angelegt wie der Eingangsbereich eines Zoos oder eines Stadtparks.

Doch hat sich die im Jahr 1990 im texanischen Houston geborene Bunny Rogers, die an der Akademie in Stockholm und der New Yorker Parsons School of Design ausgebildet wurde, weniger auf die raren Aufnahmen von Riesenkraken bezogen, als sie den mit Pigment und Leuchtpulver überzogenen "Creepy Crawler (Giant Squid)" in diesem Frühjahr formte, sondern die Spielzeugmonster aus fluoreszierendem Plastik, die sie als Kind im Waschbecken versenkte, um zuzuschauen, wie sie sich glibberig aufblähten. "Ich werde von Themen heimgesucht und von Menschen", sagt Bunny Rogers, wenn man sie nach der Herkunft ihrer Motiven befragt.

Die Bildhauerin, die jetzt mit der Ausstellung "Bunny Rogers. Pectus Excavatum" erstmals in einer Institution in Deutschland gezeigt wird, ist in den USA mit einer Trilogie zum Amoklauf in der Colombine High School im Jahr 1999 bekannt geworden. In den drei Ausstellungen baute sie die Bibliothek und die Cafeteria nach, die zu den Schauplätzen des Massakers wurden, installierte Nachbildungen des Mobiliars, überzog die Sitzpolster aber mit Pokémon-Mustern und inszenierte Video-Animationen, die im Hörsaal der Schule spielten.

In ihren Bilderfindungen vermengt sie Trickfiguren, Gitterzäune und Spitzenschuhe

In ihren Bildfindungen vermengt Bunny Rogers Zeichentrickfiguren aus dem Fernsehen mit verschrumpften Halloween-Köpfen, Gitterzäune, Spitzenschuhe, Neonröhren und Overalls, die von "My little Pony" inspiriert sind.

Die Auswahl wirkt zuweilen fast eklektisch: Bunny Rogers hält sich ganz offensichtlich nicht lange mit Recherchen auf oder der konzeptuellen Klärung der Historizität von Medienbildern. Sie arbeitet vor allem gegen das eigene Vergessen und Verdrängen an und spart deswegen Gefühle wie Wut, Obsession oder Verzweiflung nicht aus. Schon deswegen unterscheidet sich ihr überkonnotierter, wie aus Ready Mades zusammen halluzinierte Skulpturbegriff nachdrücklich von Vorbildern wie Mike Kelley, Cameron Jamie oder der fast vierzig Jahre älteren Cady Noland, deren Ausstellung im Haupt-Standort des Frankfurter Museum Moderne Kunst (MMK) derzeit noch zu sehen ist.

Susanne Pfeffer, die Direktorin des Museums, hat schon am Fridericianum in Kassel mit Ausstellungen von Annicka Yi, Nina Canell, Trisha Baga, Kerstin Brätsch und Susanne M. Winterling eine Generation etabliert, die mit keiner Technik fremdelt. Das Künstler-Ich schaut sich lieber selbst aufgeschlossen beim Streamen von Youtube-Videos zu und spürt frühen Medienerlebnissen nach. "Ich denke, es ist interessanter, über das Material zu sprechen, das die Arbeit determiniert, als über die Identität des Künstlers", diese Ansage von Pamela Rosenkranz fasst das Gemeinsame im Werk dieser Künstler zusammen.

Dennoch hat Bunny Rogers mit ihrer Ausstellung - wie nebenbei - noch einmal die Welt vermessen, das tun Bildhauer. Und zwar nicht in ihrer Ausdehnung in der Horizontalen (das erledigen Google-Autos und Satelliten), sondern als Auslotung in der Vertikalen, die von den unterirdischen Gebirgen und den tiefsten Tiefen der Meere bis zu den Gipfeln reicht, auf denen Leben kaum noch vorstellbar ist. Die Standortbestimmung zitiert souverän die deutsche Romantik, eine Zeit, in der einem Caspar David Friedrichs Eismeer noch als Zone existenzielle Zerstörung erschien. Und erinnert an konzeptuelle Expeditionen wie den Film "I'm Coming Home in Forty Days", in dem das Duo De Rijke / De Rooij einen Eisberg im Kanu umrundet, oder an Pierre Huyghes einsame Wanderung in Richtung Südpol. Anders als die Eisblöcke, die Olafur Eliasson gerade nach London schleifte, um die Auswirkungen der Klimakatastrophe plastisch und triefend darzustellen, ist ihr Eisberg in seinem Auftreten eher zurückhaltend, mehr wie die weißgestrichene Kälte eines Pinguinbeckens im Tierpark.

"Mount Olympia" (2019) erscheint als freundliches Gegenüber und lässt sich gerne anpatschen. Jeder Besucher, der die Wärme seiner Hand kurz auflegt, hinterlässt einen tiefen Abdruck in dieser Ausstellung, deren Untertitel übrigens "Pectus Excavatum" heißt, Trichterbrust. Wenn man dieser gefährlichen Gegenwart schon ausgeliefert ist, dieser Epoche von Auflösung und Vernetzung, Künstlichkeit und Komplexität, dann soll man sich auch ausliefern. In einer Operation am offenen Künstlerherzen.

Bunny Rogers. Pectus Excavatum bis 28. April im Zollamt MMK in Frankfurt.

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Quelle:
SZ vom 02.03.2019
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