Süddeutsche Zeitung

Komponist Helmut Oehring:Musiker für Ohr und Auge

Lesezeit: 7 min

Die Eltern waren taub - doch Helmut Oehring fand Ilja Richter und Dieter Thomas Heck als Schmerzmittel. Es dauerte, bis er selbst Klang-Geschichten erzählen durfte, denn der ständige Wechsel zwischen Kind- und Erwachsenenrolle kostete Kraft. Nun ist Oehring Komponist. Und was für einer.

Bernd Herbon

Die Türklingel bleibt stumm. Der Hausherr ist nirgends zu sehen. Und aus der Klangwerkstatt dringt kein Laut. Stattdessen lauscht man der Sinfonie, die in Waldsieversdorf in der Märkischen Schweiz aufgeführt wird. Blätterrauschen, leicht verstimmter Vogelchor, Trommelwirbel zu Boden fallender Eicheln, Tubaton der Buckower Kleinbahn in der Ferne.

Dann, sehr überraschend, ein sanft berlinernder Bariton. Von wo? Von unten. Helmut Oehring stürmt die Stufen der gewundenen Treppe empor, die zu seinem Haus am Hang führt. "Ich war gerade noch mal unten am See", sagt er mit warmem Timbre und einem fast unmerklichen Stocken, als ob er jedem einzelnen seiner Worte nachlauscht. Dann geht er mit dem Besucher wieder zum See zurück.

Mit Umwegen von ganz weit unten kennt sich der 50-Jährige aus. Jobs als Bauarbeiter, Friedhofsgärtner, Nachtwächter, Heizer sind nicht unbedingt die idealen Sprossen für eine Karriereleiter als Opernkomponist. Noch etwas will nicht passen: "Ich höre mit den Augen", schreibt er in seiner gerade erschienenen Autobiographie ("Mit anderen Augen", 19,99 Euro bei btb). Und: "In unserm Zuhause spielte Musik nicht eine kleine Rolle. Sie spielte überhaupt keine Rolle. Nicht der Gebärde wert."

Der Musiker Helmut Oehring wuchs als einziger Hörender in einer gehörlosen Familie auf. Vater, Mutter, älterer Bruder: alle taub.

"Mother Father Deaf" heißt ein Buch des amerikanischen Soziologen Paul Preston, das sich sogenannten Codas widmet. Die Abkürzung steht für child of deaf adults, Kind gehörloser Erwachsener. Eines von ihnen ist die Schauspielerin Louise Fletcher, die für ihre Darstellung der Krankenschwester Ratched in "Einer flog übers Kuckucksnest" den Oscar gewann und sich anschließend vor laufenden Kameras bei ihren Eltern in Gebärdensprache bedankte. Welche Dramen sich im Alltag von hörenden Kindern mit gehörlosen Eltern abspielen können, erzählte Caroline Link 1996 in ihrem mehrfach ausgezeichneten Film "Jenseits der Stille".

Gefühl der Heimatlosigkeit

Preston definiert als typischen Charakterzug dieser Menschen das Gefühl der Heimatlosigkeit: "Sie sind Grenzgänger zwischen den Welten der Hörenden und Gehörlosen. Ihre Kindheitserfahrungen umfassen sowohl die Selbstverständlichkeit, taub und hörend zu sein, als auch das Stigma der Taubheit und die Tyrannei der Hörenden."

Kinder von Gehörlosen bekommen oft früh von ihren Kumpels zu spüren: Deine Alten sind irgendwie komisch, deshalb bist du auch anders als wir. Im schlimmsten Fall müssen sie Hänseleien wegen ihrer seltsam artikulierenden Eltern ertragen, im besten Fall dürfen sie zum hundertsten Mal erklären, wie sie trotz ihrer Herkunft überhaupt reden gelernt haben. Bei dem kleinen Helmut greift deshalb das Jugendamt ein und gibt ihn zu einer Tagesmutter. Er ist vier und verständigt sich nach wie vor überwiegend in der Gebärdensprache.

Zunächst schweigt er weiter um die Wette mit der Tagesmuttermenagerie aus Dackel, Fisch und Nymphensittich. Dann beginnt er mit dem Vogel zu sprechen und schließlich auch mit den anderen Kindern zu reden. Auf den Jungen wartet trotzdem ein schmerzhafter Weg, Helmut Oehring beschreibt das seinem Besucher folgendermaßen: "Festzustellen, dass meine Muttersprache, die Gebärdensprache, draußen in der Welt nicht funktionierte, war für mich das Allerschlimmste."

Mittel, die den Schmerz lindern

Aber es tauchen Mittel auf, die den Schmerz lindern: Fasziniert erlebt der Junge, wie Pop- und Schlagerstars in "Disco" und "Hitparade" mit Klängen Geschichten erzählen. Von dem Lichtjahre von der DDR entfernten "Mendocino". Oder einer geheimnisvollen "Lady in Black". Seine ersten musikalischen Mentoren heißen Ilja Richter und Dieter Thomas Heck. "Diese Art der Kommunikation hat mich tief ergriffen."

Fortan fühlt sich der Zwölfjährige zum Missionar berufen. Er stellt sich mit seinem Kassettenrekorder auf den Alexanderplatz und beschallt die Menge mit aktuellen West-Hits: "Ich wollte allen Werktätigen, die an mir vorbeilaufen, die weite Welt der nationalen und internationalen Musik nahebringen."

Bis er seine eigenen Klang-Geschichten erzählen darf, wird es jedoch noch eine Weile dauern. Denn Codas sind ein rund um die Uhr gefordertes diplomatisches Freiwilligencorps. Immer als Vermittler im Dauereinsatz an den Krisenherden des Alltags. In Behörden, bei Beschwerden, an Ladentheken oder vor Ärzten und Anwälten wechseln sie blitzschnell von der Kind- in die Erwachsenenrolle und zurück.

Stets misstrauisch beäugt von beiden Verhandlungspartnern. Dolmetscht der jetzt auch alles richtig? Versteht der mit den Armen wedelnde Kleine überhaupt, worum es hier geht? "Dazu die ständige Anstrengung", erzählt Oehring, "bloß nicht aufzufallen." Und die Sorge, "gefährliche Situationen, in die meine Eltern geraten könnten, zu entschärfen".

Zwei Erwachsene, die sich mit rauen Lauten und großen Gesten verständlich zu machen versuchen, ziehen sogar im Gewimmel einer Fußgängerzone alle Blicke auf sich. Umso mehr in einem fast leeren Gasthaus oder in einem Geschäft, wenn plötzlich alle anderen Gespräche verstummen. Nichts ist peinlicher für ein Kind, als mit seinen Eltern Aufsehen zu erregen. Nichts quälender, als ihre Hilflosigkeit zu erleben. Möglichst diskret muss der kleine Helmut von feixenden Passanten ablenken oder vor heranpreschenden, wild hupenden Autos warnen.

Das frühe Training als hochauflösender Umgebungs-Scanner merkt man ihm bis heute an. Die dunklen lockigen Haare stehen vom Kopf ab wie Antennen auf Empfang. Seine weit geöffneten graugrünen Augen registrieren selbst kleinste Regungen am Rande des Gesichtsfelds. "Ich leide an Sehsucht", sagt er wehmütig.

Sein Arbeitszimmer im früheren Ferienhaus eines wilhelminischen Tornister-Fabrikanten bietet da nicht viel Stoff. Partituren-Papier auf dem ansonsten leeren Schreibtisch. Ein paar Schwarz-weiß-Fotos. Dafür eine fast schon kitschige Aussicht. Spätromantik in Grün- und Orangetönen. Kurz überfliegt sein Blick den von Wald und Schilf gerahmten Däbersee, der unten in der Nachmittagssonne liegt.

Schreien hätte nichts genutzt

An einem anderen See, ein paar Dutzend Kilometer entfernt, wäre er als Neunjähriger beinahe für immer im Wasser geblieben. Still und stumm. Er hatte sich in einer Senke in Schlingpflanzen verheddert, strampelte um sein Leben. Schreien, das wusste er sogar in seiner Todesangst, hätte ihm nichts genutzt. Obwohl sein Vater nur wenige Meter entfernt in einem Boot saß. Mit dem Rücken zu seinem Sohn. Zum Glück drehte sich der Kahn im Wind, der Vater sprang ins Wasser und rettete seinen Sohn in letzter Sekunde.

Vor dem tagtäglichen Untergang rettete Helmut Oehring das Eintauchen in die Musik: Sein Schutzraum gegen die Mobbing-Attacken der Mitschüler, die dem schüchternen Einzelgänger mit Prügel und Pöbeleien zusetzten. Wenig verwunderlich daher, dass seine Aufmerksamkeit bis heute Außenseitern gilt.

Seine Kompositionen porträtieren unter anderen Francisco de Goya, den ertaubten Hofmaler und verzweifelten Humanisten, Anne Sexton, die manisch-depressive Hausfrau und gefeierte Dichterin, Mike Tyson, die Kampfmaschine, der die Seele eines Taubenzüchters nachgesagt wird. Oder er vertont das Krankheitsbild des DDR-Staatskörpers: komatös mit Locked-in-Syndrom.

Bewusstsein für eigene Melodien

Bevor es so weit ist, muss er jedoch als Teenager erst einen Freiraum entdecken, der paradoxerweise gar nicht so viel mit Virtuosität zu tun hat. Ausgerechnet ein falsch gespielter Akkord schenkt ihm beim Gitarrespielen ein Bewusstsein dafür, eigene Melodien erfinden zu können. Endlich seine Geschichten zu erzählen. "Es waren im Grunde Varianten derselben Story: Ich bin der Beste, der Stärkste, alle finden mich toll, so dass mich niemand mehr verkloppt."

Bis ihn die Kritiker feiern, braucht er aber noch ein paar Umwege. Er kauft sich das Einführungsbuch "ABC der Musik" und bringt sich mühselig Noten lesen und schreiben bei. Entschließt sich als Lehrling des VEB Autobahnkombinats Dresden, ein Streichquartett in Angriff zu nehmen, "ohne zu wissen, dass das eigentlich die Krönungsdisziplin ist". Landet damit bei dem Komponisten André Asriel. Der weist ihn dezent darauf hin, dass er für den Cello-Part unspielbare Töne geschrieben hat, und vermittelt ihn trotzdem weiter an die Kollegen Georg Katzer und Friedrich Goldmann.

Als kategorischer Wehrdienstverweigerer steht Oehring mit einem Bein im Bautzener Gefängnis. Versinkt im Nachwendechaos und zeitweise im Drogennebel, bevor er als Autodidakt Europas Konzertsäle erobert. "Einen Preis für Effektivität kann ich wohl nicht kriegen", sagt er mit seinem verschmitzt-verschämten Lächeln. Dafür bekommt er Auszeichnungen, die nach seinen Vorbildern benannt sind: den Hanns-Eisler-, Paul-Hindemith- und Arnold-Schönberg-Preis.

Im März wird er beim Borealis-Festival im norwegischen Bergen sein neues Werk "Ibsen" für Orchester und Sprecher uraufführen. Seine inzwischen verstorbenen Eltern hatte er bereits zu Beginn seiner Karriere gebeten, nicht zu den Premieren zu kommen. "Ich wollte nicht ihr Abgeschnittensein von meiner Welt verstärken." Doch auf eine gewisse Weise sind sie in vielen seiner Werke präsent: "Die Stimme meines Vaters klingt wie kaputte Bremsbelege. Oder wie eine mittelgroße Kreissäge. Langgezogene Töne in der oberen Lage eines Saxophons. So gegen h. Die Stimme meiner Mutter Bassklarinette. Tiefe Lage. Um h herum."

Seine Muttersprache hat er ebenfalls auf den Musikbühnen etabliert: "Ich musste mich erst am weitesten von der Gebärdensprache wegbewegen, um am extremsten Punkt wieder darauf zurückzukommen." Mehrere seiner Stücke enthalten Parts für Gehörlose. Den Vermittlerauftrag, so der US-Soziologe Paul Preston, nehmen die meisten Codas nach der Loslösung vom Elternhaus mit ins Erwachsenenleben.

In der Musik bedeutet der Fachbegriff Coda übrigens das Wiederaufgreifen wichtiger Motive im Schlussteil einer Komposition. Was ist Oehrings Coda? "Begegnungen kontrollierter Art anstiften. Dann provoziere ich größtmögliche Verunsicherung und Entfremdung." Bei ihm stehen taube Solisten ganz selbstverständlich neben oder über dem Orchester im Konzertsaal oder auf der Opernbühne. Wenn sie in seine Partituren Satzpassagen oder Gedichte mit weit ausholenden Gesten gebärden, entsteht Raumklang im wahrsten Sinne des Wortes. Musik für Ohr und Auge.

Das hat seinen Preis. Oehring fordert bisweilen ungeheure Selbstüberwindung von den Mitwirkenden. Aus Notenlinien und Tonleitern baut er Verbindungen zwischen eigentlich unüberwindbar getrennten Welten. Seine Brücken sind kühne, aber auch schwankende Gebilde: Ausgebildete Sänger sind schon mal gefordert, sich in Gebärden zu artikulieren. Gehörlose Solisten müssen ihre Gesangsstimme erklingen lassen. "Ich stelle sie damit nicht aus", kontert er mögliche Vorwürfe. "Sie spüren, dass sie Ausgangs- und Mittelpunkt der Komposition sind." Die gehörlose Christina Schönfeld, mit der Oehring seit Jahrzehnten zusammenarbeitet, bestätigt das. "Es ist ein ergreifendes Gefühl, bei den Aufführungen diese Ausdruckskraft des gesamten Ensembles mitzubekommen."

Etwa 100.000 Gehörlose in Deutschland und auch viele Schwerhörige kommunizieren in der Gebärdensprache - einer Verständigungsform mit eigener Grammatik, diversen Dialekten und ganz eigenem Zauber. "Die Lautsprache", so Oehring, "ist im Grunde ein monotones Sprachband." Gebärdensprache hingegen ist Unterhaltung in 3D. Poesie in Bewegung, Zusammenklang von Mimik, Gestik, Hautkontakt.

Informationen mit allen Sinnen vermitteln

Diese Gespräche berühren in jeder Hinsicht. Deshalb wünscht sich der Komponist, "dass die Gebärdensprache neben Englisch und Russisch in der Schule unterrichtet wird. Sie kann den Horizont eines Menschen am weitesten aufreißen, macht sensibler und phantasievoller, weil sie Information nicht nur mit Worten und Lauten vermittelt, sondern mit allen Sinnen." Tragische Ironie: Vielleicht wird die Gebärdensprache nur als Kunstform überleben. Denn durch die Entwicklung von Cochlea-Implantaten, elektronischen Hörprothesen, erhalten sogar Taubgeborene Zugang zur Welt der Klänge.

Die Gegenwelt der Lautlosigkeit hat übrigens schon immer Künstler angezogen. Alphonse Allais, ein Freund von Erik Satie, schrieb 1897 noch in durchaus humoristischer Absicht das Stück "Trauermarsch für die Totenfeier eines bedeutenden tauben Mannes" - 24 Takte ohne eine einzige Note. John Cage schuf mit seinem berühmten "4'33" von 1952 ein viereinhalbminütiges Innehalten im Lärm der Gegenwart.

Helmut Oehring, der Mann der aus der Stille kam, baut längst an neuen Brücken - von der Moderne in die Vergangenheit. Für 2013 ist Oehrings Oper "Mittsommernacht" nach Motiven von Shakespeare, Purcell und Ingmar Bergman an der Staatsoper Berlin geplant. Und in seinem Wagner-Projekt "Vom Fliegenden Holländer" an der Düsseldorfer Oper soll Christina Schönfeld, seine Gebärden-Solistin, die sehsüchtige, sehnsüchtige Liebende Senta spielen. Die Musikliebhaber werden Augen machen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1251398
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.01.2012
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.