Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Ungleiches Maß

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Es gibt keine stringente Politik, warum Kulturveranstaltungen wegen Corona abgesagt werden. Das hat Folgen für die ganze Gesellschaft.

Von Nicolas Freund

Die Stände der Verlage auf der Frankfurter Buchmesse sind abgesagt, das Lesefest in der Stadt soll aber stattfinden, genauso wie das Literaturfest Berlin, das gerade begonnen hat. Das Poetenfest in Erlangen fand im August mit weniger Besuchern und Sicherheitsabstand statt, das Literaturfest München im November wurde dagegen gestrichen. Ähnlich improvisiert ist es bei anderen Kulturbranchen in diesem Jahr: Die Berlinale fand statt, das Filmfest in Cannes fiel aus, die Filmfestspiele in Venedig finden unter Sicherheitsvorkehrungen statt und das Filmfest München wurde abgesagt. Was schwer nachvollziehbar war, da das Dokfest wenige Monate zuvor mit einem rein digitalen Auftritt ein großer Erfolg war. Theater, Musiker und Klubs, die noch stärker als Film und Literatur auf Veranstaltungen angewiesen sind, kämpfen um ihre Existenz.

Klar, Ereignisse wie die Buchmesse oder ein Filmfest haben viele Monate Vorlaufzeit. Autoren müssen eingeladen, Filme auf der ganzen Welt gesichtet und eingekauft, Kinos, Literaturhäuser und Messehallen lange im Voraus gebucht werden. Einmal abgesagt, lässt sich da nicht mehr viel aufholen. Mit einem halben Jahr Erfahrung im Umgang mit Corona lässt sich aber sagen, dass manche Absage im Frühjahr etwas zu voreilig geschah. Und dass es so scheint, als werde im Kulturbereich an Sicherheitsvorkehrungen ausgeglichen, was in anderen Teilen der Gesellschaft nicht durchgesetzt wird.

Warum eine Kulturveranstaltung überhaupt noch komplett abgesagt werden muss, ist inzwischen kaum mehr zu verstehen. Ja, ein Literaturfest im Herbst ist etwas anderes als im August, wo man ins Freie ausweichen kann und sich die Aerosole nicht so einfach halten können. Die letzten Monate haben aber gezeigt, dass es viele kreative Lösungen für Veranstaltungen gibt, wie notfalls weniger Besucher zuzulassen, in größere Räume auszuweichen oder eine Mischung aus virtuellen Events und Präsenzveranstaltungen abzuhalten. Masken und gut belüftete Räume scheinen das Infektionsrisiko zu minimieren. Bisher hat sich zumindest keines der Kulturfeste der letzten Monate, wie die Salzburger Festspiele, als Ansteckungsherd entpuppt, genauso wenig wie die wieder voll besetzten Flugzeuge und Züge oder die vielen Restaurants und Bars, in denen die Hygieneregeln oft nur noch angedeutet werden.

Das macht es noch unverständlicher, warum für Kultur schärfere Regeln gelten als für andere Lebensbereiche. Es wurde schon häufig kritisiert, dass nicht nachvollziehbar sei, wieso in einem Zug geringere Ansteckungsgefahr als in einem Kino herrschen solle. Der Kulturbereich scheint als vernachlässigbar zu gelten, als würden an der Branche nicht ebenfalls Millionen Jobs hängen. Doch selbst ohne ökonomisches Kalkül sind die ungleich strengeren Auflagen ein Problem, denn sie suggerieren, dass etwas gegen die Seuche getan werde, während an manch anderer Stelle längst wieder 2019 gespielt wird.

Echten Seuchenschutz kann es aber nur geben, wenn in allen Lebensbereichen ähnliche Maßnahmen gelten und eingehalten werden. So scheint es, als würde die Kultur geopfert werden, um anderen Bereichen wieder möglichst viel Normalität zu ermöglichen. Das ist noch ärgerlicher, weil die Kultur damit als entbehrlicher Unterhaltungssektor verstanden wird und nicht als ein öffentlicher Raum, in dem Diskussionen geführt und Ideen entwickelt werden können.

Diese Formen von Öffentlichkeit sind aber gerade jetzt wichtiger denn je. Die Gesellschaft sieht sich mit noch nie dagewesenen Herausforderungen konfrontiert. Sie muss sich gegen ein unberechenbares Virus, gegen den Klimawandel und eine sich polarisierende Öffentlichkeit behaupten. Ohne Debatte, Reflexion und Verarbeitung geht das nicht.

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Quelle:
SZ vom 12.09.2020
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