Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Symphonie der Selbstausbeutung

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Die jüngsten Zahlen klingen fantastisch: Immer mehr Konzerte! Neue Konzertsäle! Doch dahinter verstecken sich Kürzungen und Gehaltsverzicht.

Von Helmut Mauró

Da darf man sich schon mal die Augen reiben. Mehr Besucher in Klassik-Konzerten als in Fußballstadien? Vierzig Prozent mehr als in der Bundesliga? Da staunt der Laie, und auch das englische Fachmagazin für Geiger, The Strad, wundert sich über die Deutschen. Wie kann das sein? Die einfache Erklärung der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) besagt, dass es in der letzten Saison zehn Prozent mehr Klassikveranstaltungen gab als in der zuvor.

Und auch eine vielseitigere Szenerie als zuvor: Die Sächsische Bläsersymphonie startete das Integrationsprojekt "Notenschlüssel", der WDR stemmt ein umfangreiches Programm "Plan M: Mehr Musik machen!", Orchestermusiker geben Zusatzstunden in Schulen, im Gershwin-Projekt der ARD treffen Rapper auf Klassikprofis. Auch die Spielorte scheinen sich auf wunderbare Weise zu vermehren. Sogar der Elbtunnel diente schon als Konzertsaal.

Nun soll die deutsche Orchester- und Theaterlandschaft sogar für die Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes nominiert werden. Gleichzeitig werden Säle geschlossen, die spektakulären Neubauten können darüber nicht hinwegtäuschen, und auch die öffentlich geförderten Ensembles vermehren sich nicht. Im Gegenteil. Von 168 geförderten Orchestern im Jahr 1992 sank die Zahl auf traurige 130. Die Planstellen für Musiker schrumpften laut DOV um zwanzig Prozent von 12 159 auf 9816. Wie geht das zusammen mit den stolzen Zahlen zur Klassik-Begeisterung der Deutschen?

Die Musiker spielen noch öfter, noch länger für noch weniger Geld

Die Antwort ist so simpel wie schauderhaft. Die Selbstoptimierung, die früher Ausbeutung hieß, schreitet rücksichtslos voran. Die Musiker spielen noch öfter, noch länger, für noch weniger Geld. Von den verbliebenen 130 öffentlich geförderten Orchestern arbeiten 40 zum Haustarif, also unter Gehaltsverzicht von durchschnittlich 10 Prozent, damit nicht noch mehr Stellen gestrichen werden. Das ist erfahrungsgemäß keine langfristig erfolgreiche Strategie - es könnte sogar sein, dass der zeitgemäße neoliberale Politiker einen Zusammenhang sieht zwischen steigenden Besucherzahlen und sinkenden Subventionen. Geht das privat nicht alles viel besser und billiger?

Auch in der Kultur gilt seit einiger Zeit die zynische Parole: Wenn sich jeder selbst hilft, ist allen geholfen. Der Komponist Richard Strauss war der Ansicht, dass hungrige Musiker besser spielen. Als Mitbegründer der heute nahezu sozialistisch anmutenden Verwertungsgesellschaft Gema sorgte er aber auch dafür, dass sie nach dem Konzert einen Braten auf dem Tisch hatten.

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Quelle:
SZ vom 04.03.2017
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