Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Deutscher Alltag:Viel hilft viel

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Am Anfang war das Wort, es formte sich zum Leitartikel, und die Engel weinten bitterlich. Wie der Schnee nach Berlin kam - und in die Zeitung.

Kurt Kister

Wer hätte gedacht, dass es in diesem Winter nochmal einen Anlass gäbe, über Schnee zu schreiben? Seit Jahren fällt kaum mehr Schnee, und wenn man seinem Sohn erklärt, man habe Skifahren im Hügelland nördlich Münchens gelernt, dann schaut er einen an, als erzähle man von der Zeit der Pferdekutschen. Ja, früher war es eindeutig so, dass es mehr Schnee gab, der länger liegenblieb. Und nein, früher hieß der Winter auch nicht Schneechaos.

Bedenklich allerdings ist, was jetzt, da Schnee gefallen ist, geschrieben wird. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel von Schneeprosa fand sich diese Woche in der Berliner Zeitung, ein Blatt, das einstmals die Washington Post Deutschlands werden sollte und jetzt immerhin als die Frankfurter Rundschau Berlins besser dran ist, als wenn es die Welt Washingtons wäre. Dort also schrieb einer einen Leitartikel über Schnee. (In Berlin gibt es zwar immer viel Hundekacke, aber normalerweise ganz wenig Schnee. In diesem Jahr gibt es beides in der Hauptstadt.)

Der Schnee, hieß es in dem Leiter, "legt eine gedankenvolle Schicht über den Alltag". Man fragt sich, ob die Gedanken in der Schneedecke sich nach Art der Mehlwürmer dann Unter den Linden verbreiten und vielleicht ins Café Einstein kriechen, was nicht schlecht wäre, denn da sitzen viele Menschen, die mehr Gedanken bräuchten, als sie haben. Abgesehen von den Schneewürmergedanken erzählte der Leitartikel noch von Vorratskammern, von der Erderwärmung sowie von Zahnrädern im "Uhrwerk des täglichen Mit- und Gegeneinanders". Karl Kraus, der größte Feind des Leitartikels an und für sich, hätte seine Freude gehabt.

Bei Leitartikeln weiß man ja manchmal nicht, ob sich der Autor an der Zeitung oder die Zeitung am Leser rächen will. Und trotzdem ist man dankbar, dass Gott - wer sonst? - den Leitartikel als solchen geschaffen hat. Wahrscheinlich sprach der Herr, als er am siebten Tage von der Schöpfung ausruhte, zu sich selbst: "Eigentlich wäre es gut, wenn jetzt ein scheußliches Geschwurbel aus den Wolken über den Wassern stiege." Am Anfang also war das Wort, es formte sich zum Leitartikel, und die Engel weinten bitterlich.

Nur im Leitartikel ist zu erfahren, dass Menschen, obwohl sie eine gleichbleibende Körpertemperatur von 37 Grad haben, Reptilien sind, die sich bei Kälte langsamer bewegen (so steht es im Leiter der Berliner). Auch in der FAZ hatte mal ein ganzer Leitartikel die Körpertemperatur von 37 Grad zum Gegenstand. Dies war ein großes Dokument des Gagaismus und stand auf einer Stufe mit diversen SZ-Leitartikeln über Nackte im Englischen Garten sowie über das Einschweißen von Büchern.

Ach, ernste Texte wie etwa diese Kolumne sind so langweilig. Wenn der Schnee liegenbleibt, sollte man selbst auch wieder einmal einen Leitartikel schreiben.

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Quelle:
SZ vom 16.01.2010
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