Süddeutsche Zeitung

Klassiknewcomer:Farbenprächtiges Verwirrspiel

Lesezeit: 4 min

Das preisgekrönte Vision String Quartet ist immerhin schon acht Jahre alt, hat aber jetzt erst sein erstes Album veröffentlicht, und sich dabei gleich auf Franz Schuberts legendäres letztes Quartett "Der Tod und das Mädchen" eingelassen.

Von Helmut Mauró

Der erste Akkord in Franz Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" kommt schroff, fast ein bisschen hart, aber bei weitem nicht so stählern unbarmherzig wie bei anderen Quartettformationen, die neuerdings im Forte gerne brutalistisch übertreiben. Das Vision String Quartet scheint mehr eine Vision des Stücks zu spielen als dieses selbst; dass sie auswendig spielen, unterstüzt dieen Eindruck. Dieses Ensemble fällt heraus aus der Menge jüngerer Quartettformationen, es verfügt über einen höchst kultivierten Klangsinn, ein Qualitätsbewusstsein, das sich nicht erst nach langjähriger Beschäftigung mit der Quartettliteratur einstellte, sondern von Anfang an vorhanden war als natürliche Voraussetzung.

Es kündet von jugendlicher Euphorie und Stolz auf die eigenen Kräfte, sich gleich an die größten Werke heranzumachen. Um daran zu scheitern oder die Welt in Staunen zu versetzen. Dem 2012 gegründeten Vision String Quartet gelingt letzteres. Auf ihrer ersten CD - die vier Musiker setzten bislang ganz auf Live-Konzerte - präsentierten sie Franz Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" mit solch technischer und emotionaler Präzision, so beherrscht wie beherzt krafteinflößend, dass man erschrickt über soviel Können. Woher kommt das? Ihr Kammermusikstudium absolvierten Jakob Encke (1. Violine), Daniel Stoll (2. Violine), Sander Stuart (Viola), und Leonard Disselhorst (Cello) beim Artemis Quartett in Berlin sowie bei Günter Pichler, dem ehemaligen Primarius des Alban-Berg-Quartetts.

Aber das erklärt erst mal wenig, denn im Spiel selber sind die Einflüsse kaum erkennbar. Das Vision Quartet hat früh einen sehr persönlichen Stil gefunden und dabei auch einen gemeinsamen musikalischen Ausdruckswillen verfolgt. Die Schnittmengen zwischen den Musikern, mit dem künstlerischen Impuls und den Vorstellungen des Einzelnen sind offenbar größer als bei anderen Ensembles, die Gesamtpersönlichkeit des Quartetts stärker ausgeprägt. Diesen Zustand zu halten ist eine Lebensaufgabe. Das Vision String Quartet ist noch jung und auch schon vielfach ausgezeichnet, aber man traut ihm das nötige Durchhaltevermögen zu.

Es ist, als öffne jemand ein großes Tor, an dem man immer gelauscht hat und doch nicht alles durchhören konnte

Untrügliches Zeichen dafür: Es setzt bei aller Spielfreude nicht auf äußerliche Effekte, nicht auf schiere Überwältigung. Es ist, als öffne jemand ein großes Tor, an dem man immer gelauscht hat und doch nicht alles durchhören konnte. Was verwundert, denn Schuberts mystisch-todessüchtiges d-Moll Streichquartett gehört zu den meistgespielten.

In der musikalischen Umsetzung zeigt sich gleichwohl eine unerwartete Vielfalt. Die etwas gemächlichere, vorsichtigere Herangehensweise des Alban Berg Quartetts, die dem Stück durch enorme klangliche Differenziertheit Gewicht gibt. Spuren des fabelhaften, zunächst aggressiv aufbrausenden Quatuor van Kuijk, dessen perfekte Selbstzähmung man im weiteren Verlauf spannend verfolgen kann. Im Kern bleibt es aber jugendlich wild. Das ebenfalls scharf ansetzende Juilliard Quartet - darin nur noch übertroffen vom dessen erster Geiger Robert Mann -, das stellenweise mit seinem zeittypisch sehnsüchtig-süßlichen Ton hervortritt und das Klanggeschehen in eine neue Richtung lenkt.

Das klangverschleiernde Adolf-Busch-Quartett, das sich bedächtig hält und erst im weiteren Verlauf aus dem Nebel desto wirkungsvoller heraustritt. Das hastige Artemis-Quartett, das eine pathologische Nervosität heraufbeschwört und Schuberts Fiebertraum nachspürt. Das ähnlich aufregend beginnende, dann aber über weite Strecken seltsam gleichförmige Jerusalem Quartet. Das zwischen Fiebrigkeit und Hysterie schwankende Hagen-Quartett, das dann immer wieder in unendliche Ruhe versinkt und für den zweiten Satz ein perfektes Timing findet.

Die Erweiterung des Gattungshorizontes ist ihr genetischer Abdruck

Das hochverdichtende, technisch weniger perfekte, musikalisch allerdings erstklassige, anrührende Calvet Quartet: zu Unrecht vergessen. Das vielleicht etwas zu bemüht fröhliche Borodin Quartet, das sich dadurch aber im Andante ein kindlich frei schwingendes Pathos erlauben kann, ohne vorgeben zu müssen, Unsagbares zu erzählen. Das ganz nach innen gerichtete Amadeus Quartet, das mal robust, mal verträumt um ein mystisches Zentrum kreist; im Andante erstaunlich zügig. Das Vision Quartet geht hier noch eiliger zu Werke, verblüfft dann durch die Klarheit und Präzision im Detail, die luftig hingetupften Geigenspitzentöne, den warmen Cello- und Bratschenklang und den weiten Raum, den die Musiker durch feine Akzentuierungen und individuelle Verläufe aufspannen.

Es ist ein großes farbenprächtiges Verwirrspiel von klanglicher Klarheit und ungreifbarem Inhalt. Das Konkreteste und Nächste erscheint als fernster, kaum zu umreißender Gegenstand. Genau hier bewegt sich die Musik am wirkungsvollsten, wie vielleicht alle Kunst. Die Musiker des Vision String Quartet feiern diesen Zustand geradezu, sie haben früh erkannt oder erspürt, wie man Musik maximal gestalten kann. Das letzte Streichquartett Schuberts, das populärste, gleichwohl herausragendste der Gattung, ist dafür ebenso selbstverständlich geeignet wie andere Kammermusik, die das Ensemble sich zu eigen gemacht hat. Die Grenzüberschreitungen zu Jazz und Pop, denen sie in ihren Konzerten huldigen, sind ein äußerlicher Abdruck der inneren Haltung. Die Erweiterung des Gattungshorizontes ist ihr genetischer Abdruck; die vier Musiker lernten sich in in Hannover kennen, hatten zum Teil seit Kindertagen die gleichen Musiklehrer und machten vor ihrem klassischen Studium zusammen Unterhaltungsmusik.

Noch heute spielen sie gerne gemischte Programme, Samba-Rhythmen, den Soundtrack zu einem Neumeier-Ballett, im Licht- und Videodesign von Folkert Uhde oder in völliger Finsternis - am liebsten spielen sie im Stehen ohne Noten; auch dies erinnert an die Pop-Vergangenheit. Wegen Corona stehen sie nun vermehrt im Studio. Daniel Stoll sieht da auch Vorteile: "Man kann bis ins letzte Detail gehen, unabhängig von der Saalakustik, die oft bestimmte Tempi gar nicht möglich macht, weil sonst alles verwischt." Manches ist neu und erregt Aufmerksamkeit, lenkt aber auch ab von der Tatsache, dass es hier nicht nur um möglichst bunte Unterhaltung geht, sondern darum, sein - nicht nur musikalisches - Sichtfeld zu erweitern. In dem lässt sich Altes neu und Kleines groß erleben.

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Quelle:
SZ vom 28.05.2020
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