Süddeutsche Zeitung

Klassik:Spektralgigant

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Ein gewaltiges Experiment in Berlin: Der zukünftige Chef der Bayerischen Staatsoper Vladimir Jurowski dirigiert den Klangavantgardisten Gérard Grisey - und triumphiert.

Von Wolfgang Schreiber

Ein Dirigent leistet sich eine Verkündigung: "Ich glaube, dass das Stück als Zyklus ein unglaubliches Erlebnis für die Sinne ist." Der Russe Vladimir Jurowski, ab Herbst 2021 Nachfolger seines Landsmanns Kirill Petrenko als Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper, begründet mit Inbrunst, warum er sich dem Orchesterparcours "Les espaces acoustiques" des französischen Avantgardisten Gérard Grisey ausgeliefert hat. Mit dem Mikro in der Hand begrüßt er das Publikum im Berliner Konzerthaus, wundert sich, dass der Saal so voll ist und legt, noch vor der Aufführung, sein Glaubensbekenntnis ab für diesen Parforceritt durch "die akustischen Räume". Vergleicht ihre Bedeutung mit Strawinskys "Sacre". Nach anderthalb Stunden tobt der Saal.

Der Materialaufwand, sagt der Dirigent, sei für "eines der wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts" beträchtlich, die Klanglogistik für das riesig besetzte Orchester umfassend. Vladimir Jurowski, geboren 1972 in Moskau, ist Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin und zugleich Artistic Advisor des "ensemble unitedberlin", das er vor drei Jahrzehnten mitbegründet hat und das sich zeitgenössischer Musik verschrieben hat. Mit beiden Klangkörpern, erstmals gemeinsam auf einem Podium, wagt Jurowski die zwischen 1974 und 1985 entstandene Grisey-Komposition, die in Konzeption, Ausdehnung und spieltechnischem Schwierigkeitsgrad tatsächlich zum abenteuerlichsten zählt, was die neue Kunstmusik der letzten Jahrzehnte hervorgebracht hat.

Gérard Grisey (1946-98) war Schüler des großen Klang- und Vogelstimmenpropheten Olivier Messiaen. Und so ist für Jurowski "der Klang der Hauptakteur" der sechsteiligen, von der Klangfarbenarchitektur schier berauschten Großkomposition. Überraschender- und auch verstörenderweise beginnt sie mit dem Prolog eines langen Bratschensolos von Jean-Claude Velin, das die geheimen Obertöne eines Grundtons hervorzaubert. Es folgen die Werkteile mit sieben, mit 16 oder 18, dann mit 33 Musikern, schließlich mit dem vollen Orchestersound, der in seiner gleißenden Farbenpracht ausdifferenziert und bei aller Tongewalt nie lärmend erschallt. Sondern triumphiert als ein vielstimmig leuchtendes, am Ende in heulenden oder jauchzenden Lamento-Ostinati sich steigerndes Mysterium. Und dennoch bewahrt der Sound Freiraum für allerlei sogar selbstironische Prozeduren.

Vladimir Jurowski, der Intellektuelle aus Lust, entzündet hier die Fackel des sogenannten Spektralismus. Dieser war, mit Gérard Grisey an der Spitze, die Entdeckung von Frankreichs Komponisten in der Generation nach Pierre Boulez, dem poetischen Strukturdenker. "Musique spektrale" hieß für Künstler wie Grisey: Das Spektrum der Töne und ihrer "Obertöne" wird im Innersten ausgeleuchtet und in Klang gegossen, wird gedehnt oder gerafft, umfassend übereinandergeschichtet. Grisey hat die Geheimnisse des physikalischen Klangs analytisch erforscht, und Vladimir Jurowski ordnet sie als das organisch-sinnliche Kompendium rein musikalischer Erfindung, deshalb ohne literarische Krücken oder mythologische Hintergedanken.

Etwas Lichtregie auf abgedunkeltem Podium, mit zielsicher gesetzten Leuchtstrahlen, erhellt die klingenden Prozesse. In einem Epilog treten vier Hornisten auf die Empore und markieren rhythmisierte Signale ins nunmehr ätherisch wispernde Klangkontinuum. Endlich gibt jetzt das übergroße Orchesterkollektiv sein Äußerstes an magischer Klanggewalt. Krachende Schläge der großen Trommel markieren das Ende.

Das sinnliche Erleben von Musik, die die Natur der reinen Klänge feiert, bietet für Vladimir Jurowski eine Gewissheit, die ihn von Beethoven, Mahler oder Strawinsky lebensnah zur Musik der Moderne treibt: "Man braucht keine großen Vorkenntnisse in der zeitgenössischen Musik", sagt er, "um von so einem Stück bewegt zu werden."

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Quelle:
SZ vom 22.05.2019
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