Süddeutsche Zeitung

Klassik:Nachklang

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Claudio Abbados letztes Konzert in Berlin gibt es jetzt auf CD: Die Philharmoniker spielen Mendelssohn Bartholdy und Berlioz. Es ist eine Reise, die der Dirigent zusammen mit seinen Musikern unternommen hat.

Von WOLFGANG SCHREIBER

Seit seinem Abschied von den Berliner Philharmonikern 2002 kehrte Claudio Abbado alljährlich an ihr Pult zurück. In jedem Frühjahr das vertraute Bild: Der hagere, fragil wirkende Dirigent betritt zügig den Saal, zieht den Taktstock aus dem Ärmel, schaut fragend zu den Musikern - und im Mai 2013 öffnete sich dann der Zauber von Felix Mendelssohn Bartholdys Ouverture zum "Sommernachtstraum" und der folgenden feenhaften Bühnenmusik. Danach die "Fantastique" des Hector Berlioz.

Nachzuhören ist "The Last Concert" auf einer CD des Labels der Berliner Philharmoniker. Abbado starb im Januar 2014, die Erben haben seinen musikalischen Nachlass der Staatsbibliothek Berlin geschenkt, die Philharmoniker wollen ihn kuratieren.

Der Live-Mitschnitt bestätigt die innere Spannkraft, die Abbado im Alter gesteigert zuwuchs. Nicht wenige Musiker des Orchesters hatten anfangs seine scheinbar lässige Probentechnik, Wortkargheit missverstanden. Am Ende spürte man dann nur noch Verehrung. Ja, man glaubt den letzten Aufnahmen anzuhören, dass die musikalische, menschliche, geistige Übereinkunft mit Abbado noch gewachsen war.

Er wollte gar nicht Chef sein, erinnern sich die Musiker, die mit ihm arbeiteten

Das Orchester erkannte den Suchenden, der "uns alle mit auf die Reise genommen" hat, um die "Musik zu erforschen", so erinnert sich heute der frühere Solo-Bratschist Wolfram Christ auf der Bonus-DVD. Und die Harfenistin Marie-Pierre Langlamet strahlt noch immer: "Er wollte gar nicht Chef sein . . . man hatte das Gefühl, Kammermusik mit ihm zu spielen." Gibt es ein größeres Kompliment für den Dirigenten? Wie mit dem Pinselstrich gezeichnet, im Pianissimo ausziseliert, ohne Gewaltanwendung im Forte-Triumph, so schwebt Mendelssohns Ouverture. Die Atmosphäre klassizistischer Diskretion bleibt gewahrt: Scherzo-Anmut und romantisches Notturno - zwischen flüsterndem Beschwören und Auftrumpfen erscheint das Klangbild "ausgehört". Die Nummern der Soprane (Deborah York, Stella Doufexis) und des Frauenchors wahren das romantisch dunkle Geheimnis.

Solche Klangökonomie bekommt auch Berlioz' oft allzu brachial klingender Symphonie. Die Paranoia einer erotischen Besessenheit, die Berlioz mit schrillen Ausbrüchen imaginiert, gewinnt unter Abbados ordnender Hand mal gespenstig irrlichternd, mal erbarmungslos gehärtet ihre Bewegung. Am schön-schauerlichsten, nach dem Kopfsatz-Albtraum und dem berauschenden Ball, die Szene auf dem Lande, in deren verstörende Erzählung Abbado tief hineinhören lässt. Der finale Hexensabbat - eine ausgebremste Apokalypse.

Das Ende von Claudio Abbados Musizieren in Berlin gewährt den Blick auf den Anfang, in dem auf einer Blu-Ray-Disc zugegebenen Film "Das erste Jahr in Berlin". Nach seiner Wahl im Oktober 1989 betritt ein 56-jähriger Musiker Berlin - in jenem magischen Moment, da mit dem Fall der Mauer die "friedliche Revolution" in Deutschland anbricht. Abbado blickt aus dem Fenster der Philharmonie mit großen Augen auf die Brache Potsdamer Platz, er steht an der Mauer, er wird, nach dem trostlosen Ende der Karajan-Epoche, vom Orchester mit aller Neugier und Freude begrüßt. Abbado strahlt und probt mit aller Energie Mahlers Erste. Niemand weiß, dass in Berlin eine Ära beginnt.

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Quelle:
SZ vom 17.06.2016
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