Süddeutsche Zeitung

Kinoszene:Warten auf Godard

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Der Nouvelle-Vague-Meister aus der Schweiz wollte, ja doch, Hamburg beehren. Um seinen Film "Deutschland neun null" zu präsentieren. Dann sprach das Werk für sich.

Von Willi Winkler

Dass er käme, dass er ganz bestimmt käme, wurde einem immer wieder versichert, ja, der bald neunzigjährige Jean-Luc Godard kommt wirklich & wahrhaftig nach Hamburg, um einen seiner legendären und nie gezeigten Filme vorzustellen, "Allemagne année 90 neuf zéro" (Deutschland neun null). Eine rare DVD gibt es, kein Fernsehen bringt ihn, weit und breit keine Retrospektive. Hamburg zeigt ihn, aber nicht in irgendeinem Cineasten-Keller, sondern vor Sonntagnachmittagspublikum in der luxuriösen und der Strenge Godards denkbar fernen Astor-Lounge im Schatten der Elbphilharmonie.

In "Deutschland neun null" sucht Godard ein Land, aus Hegel, Goethe und Hölderlin zusammengesetzt

Die Idee zu dem Film entstand 1988, von der Einsamkeit in der DDR sollte er handeln, dann brach diese DDR unter weltweit hallendem Getöse zusammen, und Godard begann zu drehen, zu inszenieren, zu erfinden, ein Deutschland, das es 1990 so wenig gab wie heute, ein Deutschland, das aus Hegel, Goethe und Hölderlin zusammengesetzt ist, tiefste Romantik im Verein mit ebenso tiefer Staatsanbetung. Hanns Zischler, einer der Darsteller, hat für Godard die Schauplätze gesucht. Dazu gehört die Neptun-Werft in Rostock, der Schaufelradbagger im Braunkohletagbau, das Haus am Frauenplan in Weimar mit Wegweiser nach Buchenwald. Zischler macht heute zur Einführung auch den Filmerzähler, weist darauf hin, dass jeder Satz im Film ein Zitat ist, allerdings "signiert" und zwar von Godard, der demiurgischer waltet, als es die deutsche Kunstpolizei erlauben würde. Vorm Schillerhaus heißt es, hier habe der Dichter die "Räuber" geschrieben, was natürlich nicht stimmt. Dazu Godard: "Aber ich habe es so gefilmt!" Die Hauptfigur Eddie Constantine, der dazu murmelt, wie gut er sich bei diesen Räubern verstanden fühlt, ist selber ein Großzitat, ist der Lemmy Caution, der sich dutzendfach durchs Agentenkino prügelte. Hier stapft er durch die schlimmsten Industriebrachen und die schönsten Literaturlandschaften und fragt nach dem Weg nach Westen.

Die Reise musste in Ostberlin beginnen, wo sich die Straßenbahn erhalten hat und der Investor-Mercedes demonstrativ das Schild "Karl-Marx-Straße" überfährt. Bild, Ton und Zitat konkurrieren, überlagern, widersprechen, ergänzen sich. Schüsse hallen, Frauen singen, das Morgenrot leuchtet zum frühen Tod. Die junge Claudia Michelsen ist in diesem dreißig Jahre alten Asservat Charlotte Kestner, die als Lotte in Weimar den abwesenden Herrn Goethe sucht. Sie ist auch die Dora Freuds, Kafkas letzte Freundin Dora Diamant und die Erinnerung an Dora-Mittelbau, das KZ, in dem die V 2 gefertigt wurde. Im Braunkohleabbaugebiet begegnet Lemmy Caution einem Don Quijote, der, ordentlich behelmt und mit angelegter Lanze, nach Windmühlen sucht, die er berennen kann. So einer ist auch der Regisseur Jean-Luc Godard. In Hamburg hat er ausnahmsweise siegen dürfen. Godard kam nämlich doch nicht, sein Film aber war da, und wer ihn gesehen hat, dem war die Welt draußen vor dem Kino zerfallen, und er musste sie sich neu zusammensetzen aus lauter Godard-Zitaten.

Anm. d. Red.: In einer früheren Version des Textes hieß es, "Allemagne année 90 neuf zéro" sei nicht auf DVD erhältlich. Das stimmt so nicht. Auf "Adieu au langage" von Jean-Luc Godard ist der Film als Bonusmaterial enthalten. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

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SZ vom 04.02.2020
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