Süddeutsche Zeitung

Kino:Der Nerd und der Fels

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Der Dokumentarfilm "Free Solo" begleitet den amerikanischen Extrem-Kletterer Alex Honnold bei einer seiner härtesten Felsbesteigung ohne jede Sicherung.

Von Thomas Jordan

Irgendwann hält es einer der Kameramänner nicht mehr aus. Er presst die Lippen aufeinander und legt die Finger an die Schläfe. Er dreht sich für einen Moment weg und sagt: "Ich bin durch." Die Kameras laufen unterdessen weiter. Mit extrem hochauflösenden Objektiven folgen sie einem Kletterer in rotem T-Shirt und schwarzer Hose, der sich Zug um Zug, ohne Seil und ohne Sicherung, an einer glatten, knapp 1000 Meter hohen Felswand emporhangelt. Unter ihm nichts als sehr kleine Baumwipfel und die Gewissheit, dass schon ein einziger Fehltritt tödlich wäre.

In ihrem nervenzerfetzenden Dokumentarfilm "Free Solo" kommen die Regisseure Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin dem Mann im roten T-Shirt sehr nahe. So nahe, dass die Zuschauer dem Extremkletterer Alex Honnold in manchen Einstellungen in die Augen sehen können, wenn er mit den Fingern und Zehen Halt in winzigen Felsvorsprüngen sucht. Man sieht in diesen Momenten ein Gesicht, das viel jünger als 33 Jahre wirkt. Es ist fast noch das Gesicht eines Jungen, der mit sehnsüchtigen Augen nach oben blickt, zum Gipfel, seinem Traum entgegen: Die Felswand des El Capitán im kalifornischen Yosemite-Nationalpark, eine der schwierigsten Kletterpassagen der Welt, in weniger als vier Stunden zu bewältigen, allein und ungesichert. Eine Weltpremiere.

Es ist eine der großen Stärken des Films, der unter anderem mit dem Oscar und dem Bafta Award ausgezeichnet wurde, dass er sich nicht nur auf die atemberaubenden und in dieser Detailtiefe wohl bislang einzigartigen Kletteraufnahmen verlässt. "Free Solo" will mehr als eine zeitgenössische Variante der großen Erzählung vom jungen Heros sein und schafft das auch immer wieder. Der Film ermöglicht Einblicke in das Leben und den Alltag eines jungen Mannes, den Kollegen wahlweise als Wahnsinnigen oder als großes Vorbild bezeichnen. Tommy Caldwell, einer der erfolgreichsten Sportkletterer der Welt, sagt über ihn: "So wie er mit Risiko umgeht, gibt er dir das Gefühl, unbesiegbar zu sein."

Seinen Freunden und Verwandten sagt der Extremkletterer nie Bescheid, bevor es losgeht

Alex Honnold sagt von sich selbst, dass er als Kind oft melancholisch gewesen sei, eine "dunkle Seele". Er sagt das ohne jede Koketterie, es klingt eher ein wenig hilflos - so war ich eben. Gleich zu Beginn des Films gibt es eine Szene, in der Honnold in einer amerikanischen Talkshow zu Gast ist. Die Moderatorin fragt: "Was ich nicht verstehe: ein kleiner Fehler, einmal Wegrutschen, und du fällst runter und bist tot." "Ja" sagt er. "Sie haben das genau richtig verstanden."

Man muss sich den waghalsigsten Kletterer der Welt als wortkargen, beinahe schüchternen Nerd vorstellen. Neun Jahre lang hat der junge Kalifornier alleine in einem umgebauten Kleinbus gelebt. Es gibt darin anstelle einer Rückbank einen kleinen Herd, Honnold kocht darauf Bratkartoffeln und kippt den Inhalt einer Dose Bohnen dazu. Täglich macht er dort auf zwei, drei Quadratmetern seine Dehnungsübungen, um geschmeidig zu bleiben.

Den Kleinbus parkt er auch heute noch hart unter dem Fels, den er als nächstes besteigen will. Dann sitzt er im Gras, schaut Richtung Gipfel und macht sich in einem Heft Notizen für die Karte im Kopf, die er später für die Begehung braucht: Was ist die beste Route, wo sind die schwierigsten Stellen, wie kann er sie am besten bewältigen? Seinen Freunden und Verwandten sagt der Extremkletterer nie Bescheid, bevor er eine Solo-Felsbesteigung unternimmt: "Der Druck wäre zu groß."

Alles, was ihn vom Fels und vom Adrenalin abhalten könnte, hat es nicht leicht, im Leben des jungen Kaliforniers Aufmerksamkeit zu bekommen. Von sich selbst sagt Honnold, er habe überhaupt erst angefangen mit dem Soloklettern, weil er mit niemandem reden wollte. Wenn Alex Honnold am Fels hängt, spiegelt sich in seiner Mimik das ganze Spektrum der Gefühle: Furcht, Verzweiflung, Hoffnung.

Fernab der Felswand zeigt der Film dagegen einen anderen, manchmal etwas ungelenken jungen Mann. Etwa wenn er erzählt, wie er erst im Laufe der Zeit gelernt habe, dass sich Leute umarmen, wenn sie sich begrüßen. Inzwischen fügt er an, habe er sich das auch angewöhnt, er sei jetzt ziemlich gut im Umarmen. Seit Kurzem hat der 33-Jährige eine Freundin. Die beiden haben sich bei einer von Honnolds Lesungen kennengelernt. Als er ihr Buch signierte, gab sie ihm ihre Nummer.

Ganz am Schluss des Films sieht man Alex Honnold auf dem Gipfel des El Capitán stehen. Es sind noch einmal gigantische Bilder. Er hat es in drei Stunden und 56 Minuten geschafft. Ohne Seil, ohne Sicherung. Noch auf dem Gipfel klingelt sein Handy, seine Freundin ist dran. Sie will ihm gratulieren. In der Kürze seiner Antworten spürt man neben dem Stolz und der Freude auch die Radikalität eines jungen Mannes, der an anderer Stelle im Film sagt: "Ich würde das Klettern immer einer Frau vorziehen."

Free Solo , USA 2018 - Regie: Elizabeth Chai Vasarhelyi, Jimmy Chin. Kamera: Chin, Clair Popkin, Mikey Schaefer. Verleih: Capelight, 96 Min.

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SZ vom 22.03.2019
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