Süddeutsche Zeitung

"Buñuel im Labyrinth der Schildkröten" im Kino:Mit der Kraft des Surrealen

Lesezeit: 3 min

Als Luis Buñuel einmal die Armut in der spanischen Provinz Extremadura filmen wollte: "Buñuel im Labyrinth der Schildkröten" ist Kinogeschichte als animierte Graphic Novel.

Von Doris Kuhn

Ein Zufall. Ein glücklicher Zufall war der Wegbereiter für den dritten Film des Regisseurs Luis Buñuel, und im Rückblick erscheint das angemessen für einen Mann, der sich in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit den Surrealisten in Paris herumtrieb, wo er viel zum Ruhm der Bewegung beitrug. Er hatte ihr in schneller Folge zwei wichtige Werke geschenkt, den Kurzfilm "Un chien andalou", 1929 mit Salvador Dalí geschrieben und gedreht, sowie im Jahr darauf "L'âge d'or".

Buñuels nächster Film "Las Hurdes" sollte etwas völlig anderes werden: Eine Dokumentation über die Armut in der spanischen Region Extremadura. Ein Abbild der Realität also, was bei den künstlerischen Zeitgenossen für Staunen sorgte. Sie hätten der Kraft des Surrealismus ruhig mehr vertrauen können, denn wie die Realität aussah und wie sie gefilmt wurde, das war bei Buñuels dokumentarischem Ansatz nicht unbedingt dasselbe. Über die Entstehung von "Las Hurdes" hat der spanische Comiczeichner Fermín Solís dann 2018 eine Graphic Novel verfasst. Solís stammt aus Extremadura, vielleicht war das der Hintergrund für sein Interesse, vielleicht waren es auch die Mythen, die sich um Buñuels Dreharbeiten ranken. Ein Comicbuch über einen Filmdreh, und jetzt ein Zeichentrickfilm auf der Basis dieses Comics, das ist "Buñuel im Labyrinth der Schildkröten".

Der Film ist eine Animation in 2D, die Figuren sind unterhaltsam nah an der Karikatur, die Farben sanft. Regisseur Salvador Simó hat eine Liebe zum Detail, man sieht auch sein Bemühen, Buñuel möglichst lebendig erscheinen zu lassen. Dazu werden ein paar wichtige Momente aus dessen Biografie beschworen, Albträume aus der Kindheit, über die Ängste vor Vater, Mutter, Religion. Gelegentlich lässt er Buñuel ein bisschen wahnsinnig werden, dann galoppieren Dalís berühmte Stelzenelefanten durch Paris oder gelb leuchtende Falter füllen das Blickfeld.

Simó beginnt mit Buñuels Zeit in Paris, mit der Premiere von "L'âge d'or", nach der es zu Skandalen kommt: das bürgerliche Publikum schreit "Blasphemie" oder "Kommunismus" oder "Vatikan", es sorgt dafür, dass alle Türen sich vor Buñuel schließen - was im Zeichentrick schön wortgetreu dargestellt werden kann. "L'âge d'or" wird verboten, ein dritter Film scheint für Buñuel nicht mehr machbar. Er kehrt nach Spanien zurück, um vielleicht Geld aufzutreiben, er besucht dort seinen Freund Ramón Acín, einen Bildhauer und Anarchisten. Acín sorgt dann für jenen Zufall, der Buñuel zur Weiterarbeit verhilft: Aus Übermut kauft er ein Los, prompt gewinnt er damit den Hauptpreis der Lotterie. Diesen Gewinn schenkt er seinem Freund Luis, sie machen daraus gemeinsam einen Film.

Im Landstrich Las Hurdes, nahe der portugiesischen Grenze, herrscht bittere Not

Den Ablauf der Dreharbeiten beschreibt Simó vor allem als Konfrontation zwischen Acín und Buñuel. Die beiden reisen in die Dörfer im Landstrich Las Hurdes nahe der portugiesischen Grenze, in Dreck, Hunger, bittere Not. Acín will mit dem Film die Armut zeigen, in der Hoffnung, dass dadurch der Bevölkerung geholfen wird. Buñuel will das schon auch, aber die Wahl seiner Mittel macht Acín nicht glücklich: Buñuel gibt sich mit der Realität, so hart sie ist, nicht zufrieden. Er inszeniert sie nach, um jede Gruselgeschichte der Bauern in Großaufnahme ins Bild zu bringen - dafür müssen Hühner, Ziegen, Esel vor der Kamera sterben. Es fällt ein Satz über die "dramatische Repräsentation" der Wirklichkeit, das wird bis heute im Dokumentarfilm verwandt um die Aufmerksamkeit des Publikums zu fokussieren, bloß heißt es inzwischen Doku-Fiction. Um das Ergebnis dieser Vorgehensweise zu illustrieren, unterbricht Simó regelmäßig das Zeichentrick-Format und spielt die Sequenzen im Original ein, so, wie sie in "Las Hurdes" zu sehen sind.

Als Zuschauer bekommt man also beides: Einen Blick auf die radikalen Szenen in Buñuels Film, die große Neugier wecken; und durch Simós Geschichte eine Ahnung von Buñuels Innenleben. Das ist zwar Spekulation, aber man erfährt, dass diese Begegnung mit dem Elend ihn verändert. Trotzdem hält er in der Dokumentation an seinem Stil fest, er will das Entsetzen, den Exzess, nicht bloß einen Appell an jedermanns Mitleid. Salvador Simó wiederum hat mit der Animation die adäquate Umsetzung gefunden - nur so lassen sich ein filmhistorisches Abenteuer und der Mythos Luis Buñuel visuell perfekt zusammenführen.

Buñuel en el laberinto de las tortugas - ES, NLD 2018. Regie: Salvador Simó. Arsenal, 80 Minuten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4740328
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 31.12.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.