Süddeutsche Zeitung

Jürgen Vogel:"Dieses Leben fällt mir oft schwer"

Lesezeit: 10 min

Mit 15 trat er zum ersten Mal in einem Film auf und verließ danach sofort sein Elternhaus. Seitdem spielt er mit Vorliebe Außenseiter. Im Interview spricht der mit allen wichtigen Filmpreisen ausgezeichnete Schauspieler über Grenzen.

Willi Winkler

SZ: Herr Vogel, hätten Sie auch so einer werden können wie der Vergewaltiger Theo Stör?

Jürgen Vogel: Ich würde es nicht so einfach ausdrücken, aber es gibt eine gewisse Parallele zwischen mir und den Biografien der Leute, die ich spiele. Ich deck halt ' nen bestimmten Teil ab, der nicht so häufig dargestellt wird. Es gibt nicht viele Schauspieler, die aus dem Milieu kommen, aus dem ich komme. Insofern bring ich halt auch was mit.

SZ: Und es geht auch nicht verloren?

Vogel: Es geht nicht verloren, weil ich mich nach wie vor dafür interessiere. Ich versuche daraus zu schöpfen und verschwende keine Energie darauf, so zu tun, als wäre es nicht so gewesen. Viele Schauspieler haben diesen Bildungskomplex und wollen Akademiker spielen.

SZ: Heiner Lauterbach als Professor im "Campus" - das war eine Lachnummer.

Vogel: Heiner hat das sicherlich nicht deswegen getan, aber es gibt da so 'ne Tendenz, sich mit Rollen zu schmücken, die einen besseren Status haben als der eigene.

SZ: Habe ich noch gar nicht dran gedacht.

Vogel: Die Gesellschaft wird darauf getrimmt, nach oben zu gucken. Wir haben immer Geschichten von Ärzten und Anwälten, es geht um alten Familienbesitz, um Firmen, die seit Generationen gehalten werden . . . Die Engländer lieben ihr Proletariat und schöpfen auch daraus. Das gibt's hier sehr, sehr selten.

SZ: Die Engländer haben Ken Loach.

Vogel: Klar. Den klassischen Arbeiterfilm gibt es in Deutschland gar nicht.

SZ: Was ist mit Wolfgang Becker?

Vogel: Gut, aber das ist 'ne absolute Ausnahme. "Das Leben ist eine Baustelle" war ein Anfang davon.

SZ: "Sommer vorm Balkon" geht auch in die Richtung.

Vogel: Das war's dann auch schon: Becker, Andreas Dresen, dann vielleicht Bernd Schadewald, aber wie viele solche Filme können die im Jahr produzieren? Dadurch, dass die Öffentlich-Rechtlichen angefangen haben, sich diesem Quotenkampf mit auszusetzen, hat das nachgelassen. Der Anspruch, zeitkritische Filme zu machen, wird immer mehr aufgegeben. Im Grunde haben wir auch gar nicht die Schauspieler, die da eingreifen könnten. Stell dir vor, du machst 'n Film über 'ne Baustelle und brauchst zwanzig Darsteller, die ernsthaft einen Hammer in die Hand nehmen sollen - versuch mal, das zu besetzen! Geh mal in die Schauspielschulen, wo sie fürs klassische Theater ausgebildet sind, such mal diese Gesichter, diese Lebensgesichter, diese geprägten Persönlichkeiten, such das mal!

SZ: Dafür können Sie fechten. Aber Sie haben das Spielen im formalen Sinn nicht gelernt.

Vogel: Ich hab's nicht in der Schule gelernt. Aber ich hab mit 15 angefangen und über 80 Filme gemacht. Eine bessere Schule kannst du nicht haben. Das ist wie beim Rennen. Wenn jemand zwanzig Jahre Rennen fährt...

SZ: ...ist er tot...

Vogel: Ich fahr die ganze Zeit Rennen. Andere sitzen irgendwo und theoretisieren: Wenn du in die Kurve fährst, musst du einen Gang runter, dann wieder Gas geben: Das ist für mich Schule.

SZ: Immer 180.

Vogel: Immer 180. Das war meine Schule, und ich hör das auch nicht auf.

SZ: Woher nimmt man mit 15 dieses Selbstbewusstsein, dass man von daheim abhaut, sich sagt, ich schaff das, und ich schaff das allein?

Vogel: Ich bin ein sehr sturer Mensch, glaube ich.

SZ: Aber auch das muss man lernen. Oder wurden Sie stur geboren?

Vogel: Nee, geboren bin ich so nicht. Da ist irgendwann was passiert. Ich hab generell schon 'n großen Trieb, Dinge anders zu tun, als man mir sagt, dass ich sie tun soll.

SZ: Und das war immer schon so?

Vogel: Mm. Immer schon.

SZ: Woher weiß man, dass da noch was Anderes ist?

Vogel: Das wusste ich nicht. Ich wollte unbedingt, dass es was Anderes gibt. Und als ich dann fast durch Zufall zum Film gelangt bin, hatte ich das Gefühl, ich bin da angekommen, wo ich hinwollte.

SZ: Haben Sie dann gleich gewusst, das mache ich jetzt?

Vogel: Ja. Ich wusste vom ersten Film an, das will ich machen, da will ich nicht mehr weg. Ich hab Richy Müller kennengelernt und bin in seine Clique gekommen.

SZ: War Richy Müller nicht der, der sich für die "Große Flatter" den Schneidezahn rausbrechen ließ?

Vogel: Ja, genau der. Richy war für mich ganz wichtig. Ich hab zwei Jahre mit ihm zusammengewohnt. Die Leute von "Rote Erde", das war meine Clique, das war für mich eine große Prägung, das proletarische Schauspiel. Gut, hab ich gedacht, da pass ich rein.

SZ: Was wären Sie ohne Film geworden? Straftäter? Gang-Mitglied?

Vogel: Wenn ich mich mit anderen vergleiche, dann bin ich schon froh, dass ich da raus bin.

SZ: Was ist aus den anderen geworden?

Vogel: Einer ist tot. Drogen. Andere hatten auch Drogenprobleme, einige waren lange im Gefängnis. Es gibt auch andere Beispiele, aber bei meinen Kumpels war das halt nicht so positiv.

SZ: Und sprechen Sie mit denen noch manchmal?

Vogel: Ja.

SZ: Schauen sich die alten Kumpel Ihre Filme an?

Vogel: Ich glaube schon. Ich versuche das Menschliche hervorzuheben und nicht die Tat. Also das, was wir als Gesellschaft als böse empfinden. Das ist es ja auch, keine Frage, aber es ist nicht so, dass ich das in meinem Spiel verurteile. Das kann ich nicht, weil . . . sonst kann ich das nicht spielen. Ich kann nur versuchen herauszufinden, warum. Es hat viel mit dem Milieu zu tun, in das du reingeboren wirst, in eine bestimmte Welt, dann hast du auch wenig Chancen. Das soll keine Entschuldigung sein, aber das ist für mich schon mal der erste Einstieg ins Verständnis, und das ist mein Job. Warum führt für bestimmte Menschen der Weg in 'ne bestimmte Richtung?

SZ: Mit diesem Interesse stehen Sie ziemlich allein da.

Vogel: Es gibt verschiedene Wege von Schauspielkunst. Man muss nicht alles durchlebt haben, was man spielt, aber man muss ein Gefühl für diese Haltung bekommen, überhaupt ein Interesse haben. Das lernt man nicht auf der Schauspielschule.

SZ: Bei der Stanislawski-Methode muss man sich dran erinnern, wie qualvoll einem die Großmutter gestorben ist.

Vogel: Nee, das funktioniert so nicht, das relativiert sich auch irgendwann. Du musst die Haltung dazu haben, du musst den direkten Zugang haben zu deinen Gefühlen.

SZ: Ist das Ihre Methode?

Vogel: Mir geht's darum, eine Methode zu haben, die du immer wieder verwenden kannst. Es geht um Haltung, nicht um Erinnerung.

SZ: Ein Schauspieler, der den Edgar Wibeau in den "Neuen Leiden des jungen W." spielte, hat sich zu sehr mit seiner Rolle identifiziert und ist durchgedreht.

Vogel: Ja, das ist die Gefahr.

SZ: Das darf eigentlich nicht passieren.

Vogel: Die Frage ist, wie diszipliniert bist du, wie weit geht das? Es geht nicht um die komplette Selbstaufgabe. Der Verstand ist ja nicht wegzudenken. Wenn ich ihn nicht hätte, dann hätte ich in meinem Leben viele Grenzen überschritten. Der Verstand hält einen zurück.

SZ: Und sagt, es ist nur Spiel.

Vogel: Man spielt es, man lässt es raus, wenn es gefordert wird und schaltet es auch wieder ab.

SZ: Und das geht?

Vogel: Das geht. Es ist nicht so, dass einen das nicht längere Zeit beschäftigt. Es gibt schon Sachen, die einen tendenziell eine Zeitlang verrohen. Dieses Leben an sich schreckt einen aber so ab, dass man gern wieder weggeht. Es ist ein Spiel mit dem Feuer; du kannst das nicht immer machen. Drum dreh ich zwischendurch andere Filme. Letztens habe ich einen Film gemacht mit Daniel Brühl, der auch komisch ist, und eine Komödie mit Til Schweiger. Das hat mir wahnsinnig gut getan. Ich weiß, dass ich das brauche, um wieder zu gesunden, eine Form von Waage.

SZ: Ist das dann eine bewusste Entscheidung?

Vogel: Ja.

SZ: Müssen Sie bestimmte Rollen unbedingt haben?

Vogel: Es gibt so Jahre, wo man alle vier Rollen auf unterschiedliche Weise interessant findet, und es fällt mir total schwer zu sagen: Nee, ich mach das nicht.

SZ: Sie machen das immer noch mit großer Begeisterung?

Vogel: Ja, aber es gibt auch andere Jahre. Wenn es für mich richtig gut läuft, dann ist auch Komik dabei. Die Leute zum Lachen zu bringen, ist vom Handwerk her mit das Schwierigste. Wenn ich ein paar Jahre keine Komödie gemacht habe, will ich's wieder wissen.

SZ: Was tun Sie, wenn Sie vier Wochen frei haben? Liegen Sie auf den Seychellen in der Sonne?

Vogel: Ich bin auch noch Familienvater, ich hab vier Kinder und bin sehr froh, wenn ich zu Hause bin. Zeit für mich hab ich ziemlich selten.

SZ: Können Sie mit sich allein sein?

Vogel: Ich lern das immer mehr, aber es fällt mir schwer.

SZ: Was machen Sie, wenn Sie allein sind?

Vogel: Ich versuch abzuschalten.

SZ: Was heißt das? Sie gehen in die Sauna, bauen ein Haus?

Vogel: Ich versuch zu entspannen, was mir schwer fällt.

SZ: Sie müssen sich körperlich abreagieren?

Vogel: Ja, leider. Ich bin immer so ein bisschen angetrieben.

SZ: Merkwürdig, dass das nicht aufhört.

Vogel: Je älter ich werde, desto mehr merke ich, dass ich Lust habe, Dinge, das Leben überhaupt zu genießen. Aber ich muss mich zwingen.

SZ: Hatten Sie ein Vorbild mit fünfzehn? Belmondo oder Alain Delon oder Bruce Lee?

Vogel: So 'ne Mischung aus den dreien. Robert De Niro muss da auf jeden Fall hin, Sean Penn. Von denen löst man sich aber irgendwann auch wieder.

SZ: Sie müssen ja irgendwann gemerkt haben: Ich kann's.

Vogel: Hat 'n bisschen gedauert, aber...

SZ: Glaub ich nicht, das haben Sie doch gleich gewusst!

Vogel: Nee, nee, ich hab 1984 angefangen, aber erst 1988, bei "Rosamunde", war ich mir sicher. Vorher habe ich immer gedacht, irgendwann kommen sie mir drauf, irgendwann merken sie's.

SZ: Weil die formale Ausbildung fehlte?

Vogel: Ja, und weil...Ich hab mich auch nie eigentlich Schauspieler genannt, ich hab immer gesagt, ich bin Selbstdarsteller. Ich hab gedacht, ich weiß nicht, ob ich das jetzt wirklich lange machen kann.

SZ: Und wenn es nicht geklappt hätte?

Vogel: Dann wäre ich traurig gewesen und anschließend verrückt geworden. Ich hab dann angefangen, mich nach anderen Rollen umzusehen, neugierig zu sein, offen zu sein. Mir war schon bewusst, dass ich, wenn ich's für mich weit bringen will, für meinen Anspruch, einfach auch mal Sachen ausprobieren muss, Verlust oder Armseligkeit zulassen muss und so. - Kann ich mal telefonieren?

SZ: Bitte!

Vogel: Danke.

SZ: Sie hassen diese Interviews.

Vogel: Nein, ich hasse Interviews nicht. Aber wenn solche Fragen kommen, Fragen, bei denen ich über meine Arbeit nachzudenken beginne, fällt es mir schwer.

SZ: Ach so.

Vogel: Ich fahr dann nachher rum und denk über all das weiter nach. Ich versuche nach meinem Denken zu leben. Ich hab dieses Leben angefangen, aber es fällt mir schwer. Weil mir bewusst wird, wie unfrei ich eigentlich bin. Ich kann nicht anders, als ich tue, und das ist ein komisches Gefühl. Jeder Mensch hat die Illusion von Freiheit, dieses Gefühl ist wichtig. Mir wird immer mehr bewusst, wie getrieben ich bin.

SZ: Ist das wahr?

Vogel: Man bildet sich immer ein, dass das eigne Leben freier ist. Ich träume manchmal davon, dass ich keine Filme mehr mache.

SZ: Das glaub ich nicht.

Vogel: Doch, ich träum manchmal davon.

SZ: Gerade haben Sie mir erzählt, dass Sie nichts anderes machen wollen.

Vogel: Ja, ich weiß, aber es gibt Zweifel und die Hoffnung, das aufgeben zu können, obwohl man's so liebt. Es gibt immer dieses Bedürfnis zu sagen, nein, ich brauch das nicht.

SZ: Sie brauchen es ja nicht.

Vogel: Vom Geld her muss ich schon weitermachen. Ich weiß nicht, ob das jetzt so gut ist, was ich sage. Sonst heißt es, dann zahlt ihm nicht soviel Gage, damit er nicht aufhört. Angenommen, ich hätte eine Großmutter, die sehr, sehr reich wäre, und die würde jetzt traurigerweise sterben und ich würde viele Millionen erben. Ich weiß nicht, ob ich...ob ich mir das dann weiter antue. Es tut schon auch weh, es klingt bestimmt blöd, aber es ist echt anstrengend.

SZ: Diese Energie kann man doch nicht in Rosenzucht übersetzen.

Vogel: Nein, das geht nicht. Aber da gibt's 'ne Sehnsucht. Ich könnt mir vorstellen, ich leb auf Ibiza, hab da ein Haus und produzier Platten.

SZ: Wie Dieter Bohlen.

Vogel: Mir ist schon bewusst, dass das so klingt, aber ich möcht's vielleicht machen. Es ist voll absurd, aber Musik fasziniert mich. Wir haben mit der Hansen-Band 'ne Platte gemacht, "Keine Lieder über Liebe". Legendäre Konzerte!

SZ: Hätte ich gern gehört.

Vogel: Sind halt deutsche Lieder. Ich mag das...Ich weiß nicht, ob ich das sagen soll.

SZ: Sagen Sie's.

Vogel: Nicht, dass ich mich beklagen würde, so soll es nicht klingen. Aber manchmal denke ich, das ist eine echte Last.

SZ: Ihre Rollen?

Vogel: Manchmal sage ich zu Matthias Glasner: "Warum haben wir keine Komödien gemacht, warum müssen wir diese Filme drehen?" Es gibt manchmal die Sehnsucht nach dem einfachen, schönen, oberflächlichen Leben. Ich habe mir ja schon was Schönes im Leben geschaffen, die Kinder, was wie so 'ne Heilung ist, aber trotzdem tauche ich immer wieder in die andere Welt ein.

SZ: Die des Vergewaltigers Theo Stör. Weil sie einen nicht loslässt?

Vogel: Weil se einfach da ist. Sie geht nie weg. Das kann man nicht wirklich wegkriegen, man kann nur versuchen, damit zu leben.

SZ: Robert De Niro als Jake La Motta in "Raging Bull" haut seine Frau. Können Sie einen Vergewaltiger spielen und dann noch nett zu Ihrer Frau sein?

Vogel: Ja, das kann ich gut.

SZ: De Niro hat seit Jahren keinen guten Film mehr gemacht.

Vogel: Wenn einem bestimmte Dinge nicht angeboten werden, kann man das auch nicht beeinflussen. Vielleicht auch eine Vorstellung...

SZ: ...von Vorruhestand?

Vogel: Oder vielleicht so: Ich geb jetzt nicht mehr alles, weil es mich zerstört.

SZ: Das wäre die Frage bei Ihren Rollen.

Vogel: Es ist die Frage, ob du dir immer wieder die Feder vom Berg holst. Wenn man das zwanzig Mal gemacht hat, dann denkt man, das sollen jetzt mal andere. Du kannst nicht dein Leben lang die Feder vom Berg holen.

Der Schauspieler Jürgen Vogel, 38, ist der Sohn eines Hamburger Arbeiters und Kellners. Mit 15 trat er zum ersten Mal in einem Film auf und verließ danach sofort sein Elternhaus. Die Schauspielschule besuchte er genau einen Tag; in Sönke Wortmanns Film "Kleine Haie" (1991) macht er sich darüber lustig. Vogel spielt in seinen vielen Filmen mit Vorliebe Außenseiter; seine Figuren sind oft genug zum Fürchten. Dafür wurde er mit allen wichtigen Filmpreisen ausgezeichnet. Zuletzt erhielt er beim New Yorker Tribeca-Festival den Darsteller-Preis für seine Rolle in dem Film "Der freie Wille", den er zusammen mit dem Regisseur Matthias Glasner auch produziert hat. Vogel tritt gelegentlich mit der Hansen-Band als Sänger auf.

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Quelle:
SZ vom 12.8.2006
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