Süddeutsche Zeitung

Kunst:An der Zeit

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Der Künstler James Gregory Atkinson macht in Dortmund 150 Jahre afrodeutsche Geschichte lesbar und legt rassistische Strukturen frei.

Von Gürsoy Doğtaş

Zeitkapseln sind versiegelte Behältnisse für die Zukunft. In ihnen konserviert sich eine vergangene Gegenwart. Andy Warhol hinterließ 611 solcher "Time Capsules": In Pappkartons waren Momentaufnahmen eines Monats abgepackt, geschäftliche und private Korrespondenzen, Silberbesteck aus der Concorde und Unterhosen. Die Kapseln des Künstlers James Gregory Atkinson umfassen große Zeitspannen. Sie betreffen sein eigenes Leben wie auch die Geschichte des Rassismus in Deutschland. Diese Zeitkapseln sind Elemente eines lebendigen Archivs, in denen er die Leerstellen afrodeutscher Geschichte aufarbeitet, gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Mearg Negusse und dem Politikwissenschaftler Eric Otieno.

Im Dortmunder Kunstverein präsentiert Atkinson nun vier Zeitkapseln in je einer Vitrine. Zu sehen sind private Briefe oder Fotos aus dem Familienalbum, Bücher, Zeitungsartikel oder Akten aus dem Stadtarchiv. Die "Zeitkapsel Whity" stellt zwei Liebespaare vor. Da ist zum einen das Gemälde "Preußisches Liebesglück" (1890) von Emil Doerstling, abgedruckt auf einem losen Blatt des Archiv Verlags. Ein junges Paar - ein Schwarzer in preußischer Uniform und seine weiße Verlobte - umarmt sich zärtlich. Ihr entzücktes und zugleich nach innen gewandtes Lächeln lässt ihr Glück unmittelbar werden. Doerstling portraitierte Gertrud Perling und Gustav Sabac el Cher, ein Dirigent beim 1. Ostpreußischen Grenadier-Regiment Kronprinz in Königsberg.

Die Mutter ist aus Friedberg, der Vater ein schwarzer US-Soldat

Wie auf der Suche nach inoffiziellen Genealogien platziert Atkinson am unteren Rand dieses Blattes eine Polaroid Aufnahme seiner Eltern. Dieses sehr junge Paar posiert in einer Sitznische im Club "Central Studio". Beide wirken schüchtern, als würden sie ihre Zuneigung vor den Augen der Öffentlichkeit verbergen. Die Mutter stammt aus dem hessischen Friedberg, der Vater ist ein dort stationierter schwarzer US-Soldat in Zivil. Das Foto wurde im Jahr 1980 aufgenommen, ungefähr zum Zeitpunkt der Geburt des Künstlers. Die gezeigten zart-intimen Momente der beiden Paare ergänzt er mit brutalen historischen Realitäten. "Archiv" versteht sich eben nicht als eine anonyme Verwaltungseinheit von Universitäten, Behörden oder eines Staates. Vielmehr beantwortet Atkinson deren Autorität mit einer radikalen Subjektivität.

In den Vitrinen findet sich Sonderbares, beispielsweise die rassistische Medaille von Karl Goetz aus dem Jahr 1920. Für Goetz und seine Zeitgenossen liegt die Schmach des Ersten Weltkriegs nicht allein darin, dass das Rheinland von den Franzosen besetzt wurde, sondern dass deren Soldaten sich zu Zigtausenden aus den französischen Kolonien rekrutierten. Die Inschrift der Medaille lautet "Die schwarze Schande", und als Bildmotiv findet sich ein gigantischer behelmter Phallus, an den die nackte Loreley gefesselt ist, die zerschlagene Lyra zu ihren Füßen. Mit mythologisch-pornographischer Drastik wird auf eine Vergewaltigung deutscher Frauen durch Schwarze Soldaten angespielt. Die Kinder aus dieser Bindung wollen die Behörden der Weimarer Republik sterilisieren lassen, durchsetzen können sich die "Rassehygieniker" erst im Nationalsozialismus. "Sterilisierung der Rheinlandbastarde" (1979) von Reiner Pommerin - ein Buch aus der Zeitkapsel - berichtet hiervon.

Mit enzyklopädischer Präzision wird im Kunstverein ein Archiv des Gegenwissens zusammengestellt. Rückwirkend integriert sich Atkinson in einen Diskurs, der ihn zwar selbst betraf, aber für den seiner Generation früher keine Worte zur Verfügung standen. Über das Umschlagbild des Buchs "Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung - Afrodeutsche 'Besatzungskinder' im Nachkriegsdeutschland" von Yara-Colette Lemke Muniz de Faria legt er ein weihnachtliches Familienfoto aus der 80er-Jahren, auf dem ein kleiner Junge herzlich seinen weißen Großvater umarmt.

Die GIs hatten den amerikanischen Rassismus im Gepäck

Manche Kontraste in den Zeitkapseln zeigen sich erst auf den zweiten Blick. Ein Happy End für die afrodeutschen "Besatzungskinder" imaginierte Anfang der 50er der deutsche Spielfilm "Toxi" ganz anders. "Toxi" ist die Geschichte eines fünfjährigen Mädchens gleichen Namens. Sie ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, findet dort aber keine Familie. Sie soll für immer zurück in die USA, also wird sie zu ihrem afroamerikanischen Vater in die Vereinigten Staaten geschickt. Dies sei ja schließlich ihre Heimat, so die denkfaule Perspektive des Films. Der Rassismus der postnationalsozialistischen Bundesrepublik wird hinter freundliche und scheinbar empathische Gesichter gekehrt.

Aus der Perspektive der weißen Mehrheitsgesellschaft verdichtet das Archiv Vergangenheit in afrodeutsche Erinnerung. Dies für sich genommen ist eine große Leistung. Dennoch versteht sich das Archiv nicht als ein Depot für Erinnerungen, sondern als einen Ort, an dem komplizierte und sich zuweilen widersprechende Historien aufgezeichnet werden. Beispielsweise erfahren die afroamerikanischen GIs Rassismus nicht allein im nachkriegsdeutschen Alltag, sondern auch in ihren Kasernen. "Das US-Militär hatte den institutionellen sowie gelebten Jim Crow-Rassismus in eben das Land transferiert, dem es die Demokratie beibringen wollte," bringen es Maria Höhn und Martin Klimke in ihrem Buch "Ein Hauch von Freiheit?" auf den Punkt.

In den 60ern - im Zuge der US-Bürgerrechtsbewegung -politisieren sich Schwarze GIs. Sie gehen revolutionäre Allianzen mit der westdeutschen Studentenbewegung ein. Zwei der Ausgaben der Voice of the Lumpen ("Stimme der Lumpen") befinden sich im Bestand der Zeitkapsel, ein Zeitungsprojekt des Verlags Roter Stern, der die GIs über die Black Panther-Partei und deren Programm informierte.

Neben den Kapseln sind für Atkinson Körper und Orte Behältnisse der Zeit. Mit ihnen versetzt er Erinnerung in Bewegung. So auch die Ray Barracks, eine ehemalige Kaserne der US-Armee in Friedberg, in der sein Vater stationiert war. In seinem Video "6 Friedberg-Chicago", das einem Musikclip ähnelt, haucht er den Ruinen der Kaserne mit 17 jungen Männern neues Leben ein. Auch die Väter seiner Darsteller dienten als afroamerikanische US-Soldaten in Deutschland. Hierzu läuft eine Neuadaption der Musik aus dem Film "Toxi". Wie zuvor schon Toxi erkunden sie den Raum der Zugehörigkeit und damit ihren Platz in der Gesellschaft.

James Gregory Atkinson. 6 Friedberg-Chicago im Kunstverein Dortmund. Bis 13. März 2022.

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