Süddeutsche Zeitung

Klassik:"Wie der Trabi"

Lesezeit: 4 min

Der amerikanische Oboist James Austin Smith war nie in der DDR. Trotzdem hat er nun Kompositionen des einstigen Ostdeutschlands wiederentdeckt. Er sagt: Sie stehen unter Verdacht.

Von Michael Stallknecht

Wenn James Austin Smith an die DDR denkt, dann ist es vor allem ein bestimmter Geruch, der in seiner Erinnerung aufsteigt. Dabei hat der amerikanische Oboist den ostdeutschen Staat nie live erlebt. Als er 2005 nach Leipzig kam, für ein Jahr als Gaststudent an der dortigen Musikhochschule, befand sich die Stadt wegen der anstehenden Fußballweltmeisterschaft im großen Umbau. Doch wenn er mit den alten Straßenbahnen fuhr, dann roch er diesen Geruch und sah vor allem bei älteren Menschen Kleidungsstücke, die er und seine Mitstudenten nie angezogen hätten.

Bis Smith diesen Phänomenen nachzuspüren begann, sollte es allerdings noch fünfzehn Jahre dauern. Inzwischen war er Hochschullehrer an der Stony Brook University und der Manhattan School of Music in New York geworden, spielte Oboe in der Chamber Music Society des Lincoln Center und war 2019 Mitglied im renommierten Orpheus Chamber Orchestra geworden. Doch als kurz darauf der Lockdown kam, ließ er wie viele Menschen in der erzwungenen Stille seine Vergangenheit Revue passieren - und fragte sich plötzlich, wie eigentlich die zeitgenössische Musik geklungen hatte, die die Menschen aus der Leipziger Straßenbahn gehört haben könnten.

Viele ausübende Musiker aus dem ehemaligen Osten, Sänger wie Peter Schreier oder Theo Adam zum Beispiel, sind im wiedervereinigten Deutschland bis heute in bester Erinnerung. Aber mit Kompositionen aus der DDR ist es ein bisschen wie mit ihren Filmen, ihrer Literatur oder ihrer bildenden Kunst: In der öffentlichen Erinnerung spielen sie allenfalls eine marginale Rolle. Das ist auch in den USA nicht anders. Wenn dort deutsche Kompositionen aus den vergangenen Jahrzehnten erklingen, dann vor allem von Komponisten des damaligen Westdeutschlands. Die Musik der DDR sei "von der Politik ein wenig dreckig geworden" bringt Smith im Gespräch das komplizierte Verhältnis auf den Punkt, das die Künste in allen totalitären Regimen ereilt. Wo der Staat unmittelbar in den Musikbetrieb hineinregiert, wo er wie in der DDR gar ein ästhetisches Programm vorgibt, das des "sozialistischen Realismus", da sind Komponisten in ihrem Ausdruck alles andere als immer frei. Da entstehen Abhängigkeitsverhältnisse, die im Einzelfall oft schwer zu entwirren sind und mit denen man sich deshalb lieber gleich gar nicht beschäftigt. Während die Verhältnisse von Musikern zum Nationalsozialismus inzwischen aufgearbeitet sind, steckt die musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Musik in der DDR vielfach noch in den Anfängen. Kompositionen des einstigen Ostdeutschlands, sagt Smith, hätten ein bisschen den Status "wie der Trabi": Sie stünden unter dem ständigen Verdacht, "qualitativ nicht ganz so hochwertig zu sein".

Das schwierige Verhältnis von Musik und Politik hat Smith schon immer fasziniert

Also machte sich Smith im Herbst 2020 auf den Weg, um herauszufinden, ob das wahr ist. Da er seine Studenten im Lockdown ohnehin auch an den Nachmittagen online von Leipzig aus unterrichten konnte, reiste er mit einem Stipendium des DAAD zurück in seine alte Studienstadt. Als Gastprofessor am musikwissenschaftlichen Institut der Universität verbrachte er die Vormittage in der Deutschen Nationalbibliothek und durchstöberte, was dort für sein Instrument, die Oboe, archiviert war. Dabei stieß er vor allem immer wieder auf den Namen seines Oboistenkollegen Burkhard Glaetzner. Für den heute 77-Jährigen schrieben alle namhaften Komponisten der DDR, mehr als einhundert Werke hat er zur Uraufführung gebracht hat. Daneben initiierte Glaetzner 1970 mit der Gruppe Neue Musik "Hanns Eisler" das führende Ensemble für zeitgenössische Musik in der DDR, das immer wieder auch im Westen auftrat.

Das schwierige Verhältnis von Musik und Politik hat Smith schon immer fasziniert. Schließlich hatte er sich selbst lange nicht entscheiden können, ob er lieber Politikwissenschaftler oder Musiker werden wollte. Weshalb er beides gleichzeitig an der Northwestern University in Chicago studierte, einer der wenigen Universitäten, an denen sich beide Studiengänge kombinieren ließen. Erst beim Auslandsjahr in Leipzig fiel die endgültige Entscheidung für die Musik - auch, weil er in Leipzig eine andere Unterstützung dafür spürte als in den USA. In Amerika, sagt Smith, würden Musikstudenten immer gefragt, welchen "Plan B" sie denn hätten. Im Osten Deutschlands dagegen hörte er erstmals auch von Menschen, die nicht selbst den ganzen Tag musizierend verbrachten: "Wunderbar, dass Sie Musik studieren." Smith sieht darin ein positives Erbe der DDR, die einst über die weltweit größte Dichte an staatlich finanzierten Theatern und Orchestern verfügte.

Als Smith längst wieder in New York war, erreichte ihn plötzlich ein Päckchen von Siegfried Thiele. Darin: eine neue Komposition für Oboe

Entsprechend reich war das Repertoire, das er in den Archiven, teilweise handschriftlich, für sein Instrument fand. Vieles davon will er nun in den eigenen Hochschulunterricht einbringen und selbst in Videos auf Youtube festhalten, um das Interesse daran neu zu wecken. Daneben plant er Videogespräche mit Protagonisten der DDR-Musikszene, für "eine orale Geschichte der DDR-Musik".

Wie mit Siegfried Thiele, den er bei seinem Aufenthalt in Leipzig besuchte. Der 87-Jährige, von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einst "einer der angesehensten Komponisten in der DDR" genannt, erreichte seine größte internationale Bekanntheit, als er 1981 für die Eröffnung des Neuen Gewandhauses die "Gesänge an die Sonne" komponierte. Weil die darin verwendeten Texte dem Zentralkomitee der SED nicht gefielen und Thiele als Mitglied der Christengemeinschaft ohnehin latent verdächtig war, musste der Dirigent Kurt Masur die Uraufführung erst freikämpfen. Dafür wurde Thiele bald nach der Wende zum Rektor der Leipziger Musikhochschule berufen. Dass der Amerikaner ihm privat eines seiner Stücke vortrug, habe ihn merklich gefreut, erzählt Smith.

Als er längst wieder in New York war, erreichte ihn plötzlich ein Päckchen von Siegfried Thiele. Darin: eine neue Komposition für ihn, eine "Ballade für Oboe". Am 9. Juni dieses Jahres wird Smith sie nun beim Spoleto Festival in Charleston, South Carolina, zur Uraufführung bringen, nachdem der Konzertbetrieb in vielen Staaten der USA schon wieder ins Rollen gekommen ist. Im August soll beim Orlando Festival in Holland die europäische Erstaufführung folgen. Und dort wird, so es die Reisebedingungen erlauben, der Oboist aus der Neuen Welt vielleicht auch erneut auf den Komponisten aus dem untergegangenen Staat treffen.

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