Süddeutsche Zeitung

Italienische Literatur:Der Schiffbruch ist mir süß in diesem Meere

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Vor 200 Jahren schrieb Giacomo Leopardi das Gedicht "L'Infinito" - sein Geburtsort Recanati widmet ihm eine Ausstellung.

Von Thomas Steinfeld

Auf einem Berggrat in den italienischen Marken liegt die Stadt Recanati. So schmal ist dieser Rücken, dass die Altstadt sich entlang nur einer Straße zieht. Sie ist von alten Palazzi gesäumt. Von ihren Rückseiten dürfte man oft eine freie Sicht haben, auf den Monte Conero und die Adria in östlicher Richtung, auf die Hügel der Marken im Westen. Die Straße beginnt im Norden, am Dom, und zieht sich dann, in einigen Schwüngen und an der Piazza vorbei, über einen guten Kilometer bis zu einem kleinen Park, in dem eine hölzerne Bank steht.

Der Satz "Sempre caro mi fu quest'ermo colle" ist auf weißen Marmortafeln an der Mauer hinter dieser Bank geschrieben, von der man bis hinüber zu den sibillinischen Bergen blickt: "Auf diesem kahlen Hügel saß ich immer gern", übersetzt Hans Magnus Enzensberger, mit sicherem Gespür für die prosaischste aller möglichen Wendungen. Mit diesen Worten jedenfalls beginnt eines der zwei, drei poetischen Werke, die jeder dürfte zitieren können, der je in eine italienische Schule ging: "L'infinito", verfasst im Herbst 1819 von Giacomo Leopardi, dem ältesten (und damals erst 21 Jahre alten) Sohn eines verarmten Grafen, der mit seiner Familie in einem dunklen Palazzo auf der anderen Seite jenes Hügels wohnte.

Dieses Gedicht, aus fünfzehn reimlosen Zeilen bestehend, ist das poetische Äquivalent eines schwarzen Lochs in der Astronomie. Vom Rand aus betrachtet ist es anmutig und gefällig. Nichts daran scheint schwierig zu sein, und was immer einen Widerstand hätte setzen können, verliert sich im Dunst über den Hügeln. Man meint, einen von diffusen Sehnsüchten erfüllten jungen Mann zu hören, der in mehr oder minder melancholischer Stimmung von seinem erhabenen Sitzplatz aus über die Landschaft schaut. Ein wenig unheimlich wird dem Leser jedoch schon zumute, wenn er den Wörtern hinterherspürt: Der Hügel, von dem der Dichter in die Landschaft blickt, hieß damals "Monte Tabor", nach dem Berg, auf dem Jesus vom Satan versucht worden sein soll. Und unter "ermo colle" - einem "kargen", "kahlen" oder "verlassenen" Hügel - mag man sich den Wohnort eines Eremiten vorstellen.

Ein Einsiedler sitzt dort oben, ein Dichter, vielleicht auch ein Prophet. Er blickt in den Raum, er sucht in der Zeit. Aber wohin er sich auch wendet, so etwas wie Gewissheit findet er nicht: "Und so versinken / im Unermesslichen mir die Gedanken / und Schiffbruch ist mir süß in diesem Meere", lauten die letzten drei Zeilen in der Übersetzung von Hanno Helbling.

Dem Gedicht "L'Infinito", vor genau zweihundert Jahren geschrieben, ist in Recanati gegenwärtig eine Ausstellung gewidmet. In ihrem Mittelpunkt stehen zwei Handschriften des Werks: eine ältere, von Leopardi verbesserte, die in Neapel aufbewahrt wird, und eine jüngere, die der Druckfassung gleicht und die gewöhnlich in Visso verwahrt wird, einem Dorf in den sibillinischen Bergen, wohin sie im Lauf des 19. Jahrhunderts nach einigen ökonomischen Abenteuern geraten war. Und gewiss, es ist interessant zu sehen, wie die "celeste confine", die "himmlischen Grenzen", durch "l'ultimo orizzonte", den "letzten Horizont", ausgetauscht werden: Denn dieser muss ja unendlich viel weiter entfernt liegen, als es jene überhaupt sein können.

Und was bedeutet es, dass Leopardi im ersten Manuskript über Hilfslinien schreibt, während die Verse im zweiten völlig frei zu fließen scheinen, ausgeführt in einer außerordentlich lesbaren, aber persönlichen Handschrift, in deren Ordnung die existenzielle Krise, die der Dichter in den Monaten zuvor durchlebt hatte, vollständig aufgehoben wirkt? In einem Akt, den Leopardi selbst als "Verwandlung" beschrieb, hatte er sich von der elterlichen, katholischen Umgebung gelöst und war zu einem patriotischen Freigeist geworden.

Wenn es aus Giacomo Leopardis Leben nur wenige Dinge gibt, die man in einer Ausstellung zeigen könnte, wenn seine Hinterlassenschaft hauptsächlich aus beschriebenem Papier besteht, dann liegt das auch an diesem Leben. Das schwächliche, verwachsene Kind verbrachte, bewacht von einem ultrakonservativen Vater und einer strenggläubigen Mutter, seine Tage hauptsächlich in der häuslichen, üppig ausgestatteten Bibliothek. Dort lernte Giacomo Leopardi ein halbes Dutzend Sprachen, Griechisch und Latein selbstverständlich eingeschlossen, er beschäftigte sich gründlich mit den Naturwissenschaften, er übte sich in der Schriftstellerei. Als er dann in die Welt trat, stets belastet von seiner kümmerlichen Erscheinung, von Krankheiten und Armut, aber auch vom Pech verfolgt, war er einer der bedeutendsten Philologen seiner Zeit - und ein Dichter, ein Philosoph und Essayist, der im späteren 19. Jahrhundert als einer der größten Geister wahrgenommen wurde, die Italien je hervorgebracht hatte.

Aber es konnte ihm nicht helfen, dass Christian von Bunsen, Botschafter Preußens am Heiligen Stuhl, ihm 1822 einen Ruf auf die Dante-Professur in Bonn vermittelte. Er nahm den Ruf nicht an, vielleicht weil er Italien nicht verlassen wollte, vielleicht weil, an ein rasch wachsendes Werk gebunden, der Körper ohnehin nicht mehr trug. Leopardi starb im Juni 1837, an Entkräftung, wie man wohl sagen muss.

Giacomo Leopardi einen Romantiker zu nennen, wie es bis heute oft geschieht, heißt, ihn zu einer vor allem historischen Gestalt zu vermindern. Das ist er nicht. Oder er ist viel mehr als ein Romantiker. In einem Kommentar zu "L'infinito" besteht Leopardi darauf, dass mit der Natur, so wie sie im Gedicht erscheint, auch die Büsche gemeint sind: "Man kann meine Idylle lesen ... und sich eine abschüssige Gegend in Erinnerung rufen." Die Natur ist in diesem Gedicht kein Vehikel des Schwärmens und kein Symptom eines weltabgewandten Denkens. Eher ist die Natur, eben weil sie sich letztlich dem gedanklichen Zugriff entziehen soll, der romantische Blick aber vor jeder Hecke ins Stolpern gerät und sich hinter jedem Horizont ein anderer auftut, ein Medium der Desillusionierung angesichts aller Hoffnungen auf Erlösung, die sich Aufklärung und frühe Romantik (die es ja auch in Italien gab) gemacht hatten.

Und als wäre das alles nicht genug, gelingt es Leopardi in diesen fünfzehn Zeilen, auch noch das Medium infrage zu stellen, in dem er selber spricht: Er wolle, heißt es im Gedicht, "dem Schweigen, dem unendlichen" seine Stimme entgegenhalten - für eine "Jahreszeit" und wohl wissend, dass man ansonsten mit Toten rede. Der Grund des schwarzen Lochs, hier ist er fast erreicht, in einer Freiheit des Nachdenkens über die Welt und über sich selbst, die alles andere als "romantisch" ist.

Leopardi, L'Infinito e i manoscritti di Visso. Bis 19. Mai. Villa Colloredo Mels, Recanati. Der Katalog ist nur auf Italienisch erhältlich und kostet 24 Euro.

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SZ vom 28.03.2019
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