Süddeutsche Zeitung

Interview:Verspielte Chancen

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Versailles und die Welt: Anschaulich und perspektivenreich schildert Jörn Leonhard die Entstehung der Nachkriegsordnung von 1918 bis 1923. Wie kam es zum "überforderten Frieden"?

Von Jens Bisky

Am 11. November 1918 endeten mit dem Waffenstillstand von Compiègne die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs. Das Ringen um eine neue Friedensordnung begann. Von ihr wurde weltweit viel erwartet, doch die Friedensverträge von Versailles, Saint-Germain, Neuilly, Trianon und Sèvres enttäuschten die meisten. Der Zusammenbruch der großen Imperien, des Zarenreiches, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches, führte zu Staatenbildungskriegen, neuen Grenzen, Gewaltexplosionen und Vertreibungen. In seinem großen, Maßstäbe setzenden Buch "Der überforderte Frieden" erzählt Jörn Leonhard eine Globalgeschichte dieser Zeitenwende.

SZ: Herr Leonhard, wie erreichte der Waffenstillstand die Front? Kamen Meldegänger und riefen: "Gewehre nieder"?

Jörn Leonhard: Als am 11.11. 1918, am Vormittag vor elf Uhr, die Nachricht eintraf und an manchen Stellen Meldereiter mit Trompeten den Waffenstillstand verkündeten, rieben sich viele Soldaten verwundert die Augen: Das hätten wir vor drei Monaten nicht erwartet. Es gab keinen Präzedenzfall, wie ein solcher Krieg konkret endet. Soldaten an den Funkstationen bekamen die Nachrichten unmittelbar mit und feierten bereits, während andere dem Waffenstillstandsgerücht noch nicht glaubten. Die Deutschen hatten das Feuer eingestellt. Aber würde es dabei bleiben, konnte man diesem Kriegsende trauen? Die Bestimmungen des Waffenstillstands waren geprägt von der Angst, Deutschland könne den Kampf wieder aufnehmen. Das blieb bis zur Unterzeichnung des Versailler Vertrags am 28. Juni 1919 ein Thema.

Das ist die Perspektive der Westfront. Wie sah es andernorts aus?

Das Kriegsende ist ungleichzeitig. In Ostafrika kapitulierten die Deutschen später und mit Paul von Lettow-Vorbeck inszenierte man eine Kapitulation unter weißen Europäern, die zeigen sollte, dass man eine Art "gentleman's war" gekämpft habe, was nichts mit der Realität zu tun hatte. Für viele deutsche Soldaten stellte sich angesichts der Revolution vom 9. November die Frage: Was ist das für eine Heimat, in die wir jetzt zurückkommen? Die Soldaten hatten eine Art emotionaler Selbststabilisierung betrieben, die auf der Annahme basierte, dass Familie, Dorf, Arbeitsstätte unverändert geblieben seien. Nun fürchteten sie, dass sich das als Illusion erweisen könnte.

Welche Gemeinsamkeiten gab es zwischen Siegern und Besiegten?

Vielleicht mehr, als man zunächst annehmen möchte. In London und Paris kam es zu euphorischen Momenten, aber in kleineren Städten überwog ungläubige Erleichterung. Dort war der Jubel oft verhalten. In einer Wand des Senatsgebäudes im Pariser Jardin du Luxembourg kann man bis heute die Spuren deutscher Artilleriegeschosse von 1871 und vom Sommer 1918 erkennen. Dass die Deutschen noch in der Endphase des Krieges so weit gekommen waren, hat sich tief in die französische Erinnerung eingegraben. Deshalb trauten viele dem Frieden nicht. Dazu kamen die private Trauer und die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem erreichten Frieden und den Opfern des Krieges. Das geschah auch in Deutschland, eine der Antworten war die Dolchstoßlegende. Aus dem Verhältnis zwischen den Opfern und dem Ergebnis des Krieges entstanden enorme Erwartungen an die neue Friedensarchitektur.

Schaut man heute auf die ersten Friedenmonate, so überwiegt der Eindruck verpasster Chancen. Sie sprechen von einem "Moment der Ermächtigung". Warum?

Ich glaube, dass diese Ermächtigung früher beginnt, darum erzähle ich aus der Endphase des Krieges heraus. Die Ermächtigung resultiert aus der Kombination von Erschöpfung und konkurrierenden Utopien, Woodrow Wilsons Demokratie und Lenins Weltrevolution. Beide treffen sich im noch vagen Begriff der nationalen Selbstbestimmung, den die Bolschewiki im Kontext der Oktoberrevolution aufgebracht haben. Darauf reagiert US-Präsident Wilson mit seinen 14 Punkten im Januar 1918.

Welche Utopie vertrat Wilson?

Wilson ist, anders als lange behauptet, kein naiver Idealist. Er war stark religiös motiviert, stammte aus einer calvinistisch geprägten Familie. Wollte man zuspitzen, könnte man sagen: Er war ein politischer Prediger am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, überzeugt von der besonderen Sendung der amerikanischen Nation. Diesen Gedanken universalisierte er. Daher rührte die Vorstellung, man könne Frieden nur dann schaffen, wenn man die Gesellschaften des Nachkriegs demokratisiert - daher seine Wendung gegen die alten Militärmonarchien in Europa. Das ist gleichsam die Übertragung des amerikanischen Konzepts der Nation auf alle Gesellschaften, die sich als "reif genug" erwiesen.

"Reif" meint: Das gilt nur für Europa, nicht für die Kolonien?

Genau. Darüber entsteht ein erster großer Streit zwischen den Verbündeten. Franzosen und Briten argumentieren, dass sie sich Selbstbestimmung für Polen und Tschechen und Südslawen vorstellen können, aber selbstverständlich nicht in Afrika oder Asien.

Obwohl sehr viele Soldaten von dort rekrutiert wurden.

Daraus entsteht die Ambivalenz, denn den afrikanischen und asiatischen Soldaten hatte man in London und Paris viel versprochen, doch nach Kriegsende war von großen Konzessionen an ihre Heimatgesellschaften keine Rede mehr. Es ging dabei zunächst nicht so sehr um formale Unabhängigkeit, sondern um Verbesserungen des Status innerhalb der Kolonialreiche. Wilson dachte nicht daran, all diese Länder zu dekolonialisieren, sondern an einen allmählichen Entwicklungsprozess. Als man die Mandate einführt, eine Art Vormundschaft "fortgeschrittener Nationen" über andere Völker, gibt es A-, B- und C-Mandate. Das verwies auf ein europäisch geprägtes Zivilisierungsmodell als Basis des Kolonialismus. Dennoch entsteht mit dem Schlüsselbegriff "Selbstbestimmung" ein Möglichkeitsraum, etwa für diejenigen, die sich fragen: Warum gilt das für Polen, Slowaken, Südslawen, warum gilt es nicht für Araber, Inder, nicht für Chinesen, Koreaner, Westafrikaner. Plötzlich kann man die lokale Situation in den Horizont eines universellen Paradigmas stellen.

Anfang 1919 treffen sich die Siegermächte in Paris und beraten über die neue Friedensordnung. Es fällt ihnen schwer, sich zu einigen. Worüber streiten sie?

Der Konflikt begann bereits im Krieg, wurde aber vom Kampf gegen den gemeinsamen Gegner überdeckt. Mit dem Waffenstillstand treten die Unterschiede hervor. Frankreich will Deutschland schwächen, auch territorial. Die Briten wollen den Konkurrenten von vor 1914 ausschalten und konzentrieren sich auf die Auslieferung der deutschen Schlachtflotte. Die Sieger brauchten Wochen, um ihre Interessengegensätze auch nur im Ansatz auszutarieren. Das führte zu Kompromissen, zu Verrechnungen von Aspekten, die nichts miteinander zu tun haben: Regelungen in Europa, im Mittleren und Nahen Osten mit dem Status von Schantung, des ehemaligen deutschen Schutzgebietes in China ...

... das bei Japan bleibt.

Ja, was wiederum dazu führte, dass die Chinesen den Versailler Vertrag nicht unterzeichneten. Bis heute spielt das in China für die Auseinandersetzung mit dem Westen eine große Rolle. Andres gesagt: China erfährt 1919 das Glaubwürdigkeitsproblem der vom Westen versprochenen Friedensordnung.

Jetzt blicken wir wieder aus der West-Perspektive. In Ihrem Buch aber behaupten Sie, das 20. Jahrhundert beginne und ende in Brest-Litowsk, 775 Kilometer östlich von Berlin. Warum dort?

Weil dort der erste Frieden geschlossen wurde, der häufig übersehen wird, aber enorme Bedeutung hat. Und das nicht in dem Sinne, dass die Deutschen dort Russland einen Diktatfrieden aufzwingen und dann deshalb in Paris Ähnliches erleiden müssen. In Brest-Litowsk trafen ab Herbst 1917 unfassbare Gegensätze aufeinander. Da saßen Vertreter der wilhelminisch-kaiserlichen Regierung an einem Tisch mit Vertretern der Bolschewiki, die auch noch einen Bauern mitgebracht hatten. Und beim Diner erzählt ein weibliches Mitglied der russischen Delegation den verdutzten deutschen Diplomaten, dass sie einen Gouverneur des Zaren erschossen hatte. Allen Beteiligten war bewusst, dass sie an der Schwelle zu etwas Neuem stehen.

Wieso?

Die Bolschewiki hatten unmittelbar nach der Oktoberrevolution angekündigt, die Archive zu öffnen, die Ära der Geheimdiplomatie zu beenden, sich für die Selbstbestimmung aller Völker einzusetzen. Obwohl der Vertrag von Brest-Litowsk durch den von Versailles aufgehoben wurde, werden sich viele der Beteiligten auf beiden Seiten wiedertreffen, nämlich 1922 in Rapallo. Trotz aller ideologischen Gegensätze kommen Deutschland und Sowjetrussland nach 1920 als die von Versailles Ausgeschlossenen rasch zusammen - wer diese Volten verstehen will, muss mit Brest-Litowsk beginnen. 1991 dann wurde in der Nähe der Stadt, im Urwald von Belowesch, das Sowjetimperium beerdigt und die GUS begründet. Dieses nicht geplante Zusammentreffen zweier Weltaugenblicke an einem Ort finde ich atemberaubend.

Während im Osten Bürger- und Staatenbildungskriege stattfinden, wird in Paris die Friedensordnung paraphiert. Der Versailler Vertrag fällt durch seinen Umfang auf. Warum ist er so dick, so detailliert?

Das Ziel war ein Frieden, der diesem Krieg mit all seinen Opfern gerecht werden sollte, ein "totaler Frieden" nach einem totalisierten Krieg. Die Regelungswut des Friedensvertrages spiegelt auch die Macht des Kriegsstaates. Der Erste Weltkrieg war ja nicht nur der Krieg der Artilleriegeschütze, er war auch ein Krieg der Planungsstäbe, der Eisenbahn- und Infrastrukturexperten. Der Mythos der Sachlogik spielte eine große Rolle. Hinzukommen Experten als neue Akteure: Ethnologen, Völkerrechtler, Finanzfachleute.

In Ihrem Buch treten zu den Experten mit Objektivitätsideal die Experten für Erregung: die Journalisten. Welche Rolle spielen sie?

Die Verhandlungen sollten transparent sein, "new diplomacy". Aber in Paris stellte man rasch fest, dass die "Meute" der Journalisten andauernd Nachrichten benötigt. Daher kehren nach einigen Wochen wesentliche Elemente der Arkandiplomatie zurück, bis am Schluss die großen drei - Wilson, Lloyd George, Clemenceau - entscheiden und das Plenum vor allem eine Beglaubigungsfunktion erfüllt. Die Rolle der Presse dabei ist ambivalent. Sie wird immer wieder bewusst instrumentalisiert. Die Franzosen lassen Informationen durchsickern, um Wilson unter Druck zu setzen. Gleichzeitig ist alles, was in Paris besprochen wird, eine potenzielle Weltnachricht. Was in Paris geschah, löste in Kairo oder Shanghai unmittelbar Reaktionen aus.

Das hat etwas Paradoxes, die ganze Welt diskutiert die Verhandlungen, während Sieger und Besiegte nicht miteinander reden. War das von Anfang an so geplant?

Dass man nicht gleichberechtigt miteinander verhandelte, war der fundamentale Unterschied zum Wiener Kongress von 1814/15 oder anderen frühneuzeitlichen Friedensverträgen wie 1648. Die Idee einer Vorkonferenz zur Absprache der Sieger untereinander und eines anschließenden Friedenskongresses geriet in den Hintergrund. Angesichts der Interessengegensätze zwischen den Siegern wird aus der Vorkonferenz eine Definitivkonferenz. Das Ergebnis ist ein Versagen von politischer Kommunikation. Weil Sieger und Besiegte nicht miteinander reden, wird das Vakuum mit Gesten, Symbolen, Emotionen gefüllt. So wird die Frage, warum der deutsche Außenminister bei seiner Rede anlässlich der Übergabe des Vertragsentwurfs sitzen bleibt, entscheidend. Französische Zeitungen deuten es als Zeichen, die Deutschen hätten nicht verstanden, dass sie den Krieg verloren haben. Diese Reiz-Reaktions-Mechanismen verstärken das gegenseitige Misstrauen permanent.

Folgt deswegen auf den Moment der Ermächtigung die globale Enttäuschung ab dem Sommer 1919?

Die Ermächtigungsmomente setzen sich zunächst noch fort. Die neuen ostmitteleuropäischen Staaten versuchten seit November 1918, vollendete Tatsachen zu schaffen, neue Grenzen zu ziehen, die sie in Paris ratifizieren lassen wollten. Die Handlungsspielräume in Paris waren das eine, doch was mit militärischer Gewalt vor Ort entschieden wurde, war etwas anderes. Zudem darf man nicht unterschätzen, dass der Ermächtigungsmoment global wirkt, selbst bei denen, die nicht nach Paris kommen. Exil-Koreaner in den USA hatten bereits eine Delegation zusammengestellt, um sich gegen das japanische Kolonialregime zu wehren. Nachdem sie kein Visum erhielten, inszenierten sie einen First Korean National Congress - in Philadelphia, der Stadt von 1776. Und es gibt das große Alternativprojekt zur Pariser Friedenskonferenz, die Konferenz der Kommunistischen Internationale in Moskau. Dennoch haben Sie recht, im Sommer 1919 sehen fast alle ihre großen Erwartungen enttäuscht.

Was folgte daraus?

Es beginnt eine Phase der Revisionsanläufe. Die Unzufriedenheit Frankreichs führt 1923 zur Ruhrbesetzung, bis die Regierung in Paris versteht, dass ihr für einen weiteren Konfrontationskurs die Ressourcen und die internationale Unterstützung fehlen. Die Amerikaner wollen zur Normalität zurückkehren, sich auf sich selbst konzentrieren. Die Briten sind mit ihrem Empire beschäftigt, aber sie erkennen auch früh die Notwendigkeit, die Deutschland auferlegten finanziellen Lasten zu modifizieren.

Der erfolgreichste Revisionist war wohl Mustafa Kemal, der Staatsgründer der Türkei. Warum glückte ihm, woran andere scheiterten?

Vor dem Hintergrund enormer Gewalt kam es 1923 zu einem Kompromiss: Die Alliierten sind bereit, einen souveränen türkischen Staat zu akzeptieren, dafür verzichtet die neue Regierung in Ankara auf die alten Gebiete des Osmanischen Reiches im Nahen Osten, so dass Frankreich und Großbritannien dort freie Hand erhielten. Innenpolitisch gab es in der französischen und der britischen Gesellschaft keine Unterstützung mehr für einen weiteren Krieg. Schon die Interventionen in den russischen Bürgerkrieg verliefen ja im Sande und am Schwarzen Meer revoltierten französische Soldaten, weil sie nach Hause wollten. David Lloyd George, der bereit war, die Griechen im griechisch-türkischen Krieg zu unterstützen, stürzte letztlich über diesen Konflikt.

Zeigt nicht gerade der griechisch-türkische Krieg mit den folgenden Säuberungen, Vertreibungen und Umsiedlungen, wie verhängnisvoll die Idee vom Selbstbestimmungsrecht der Völker wirken ka nn ?

In diesem Krieg, symbolisiert im Brand von Smyrna, erkennt man die entfesselte ethnische Gewalt. Das hatte bereits vor 1914 begonnen, in den Balkankriegen, und eskalierte währen des Krieges mit der genozidalen Gewalt gegen die Armenier. So ging der Staatenkrieg von 1914 in neue Gewaltformen von Bürgerkrieg, ethnischer Gewalt und Nationalstaatsbildung über. Für das Gebiet des Osmanischen Reiches greift die Chronologie 1914 - 18 zu kurz, dort haben wir es mit einem Gewaltkontinuum zwischen 1912/13 und dem Vertrag von Lausanne 1923 zu tun. Das brennende Smyrna war auch ein Symbol für die Unglaubwürdigkeit der westlichen Mächte, die sehenden Auges die Griechen in das Abenteuer der Expansion nach Kleinasien geschickt hatten. Als sich das Blatt wendete, ließ man die Griechen allein.

Früh schon wurde den Friedensverträgen vorgeworfen, sie bedeuteten Frieden, um den Frieden zu beenden. Teilen Sie das Urteil? Ist der Versailler Vertrag so schlecht wie sein Ruf?

Nein. Dass es unter dem akuten Problemdruck überhaupt zu einem Frieden kam, ist schon eine Leistung. Wir müssen unterscheiden zwischen dem Inhalt der Verträge einschließlich der Begründung der neuen Institution des Völkerbundes und der Wahrnehmung 1919. In Deutschland hat man den Vertrag auf den Zusammenhang von Schuld und Schulden reduziert. Im Zentrum standen der moralische Vorwurf, den Krieg verursacht zu haben, daran anknüpfend die Strafverfolgung Wilhelms II. und das Reparationsproblem. Doch übersah man, dass der Versailler Vertrag den deutschen Nationalstaat von 1871 nicht zerstörte. Die größten territorialen Einbußen erlitt nach dem Krieg Großbritannien mit der Unabhängigkeit Irlands. Auch die deutsche Wirtschaftspotenz wurde im Kern nicht zerstört. Alte politische Konkurrenten in Ost- und Ostmitteleuropa wie das Zarenreich oder die Habsburgermonarchie existierten nicht mehr.

Hat das damals jemand so gesehen?

Der Schuld-Schulden-Komplex verdeckte das, aber viele Diplomaten in Paris wussten um die Schwächen des Vertrages. Sie wollten ihn als Ausgangspunkt sehen und aus dem Völkerbund ein Instrument machen, um die Friedensordnung sukzessive auszubauen. Sie dachten an die Zukunft des Kolonialismus, den Schutz von Minderheitenrechten, an die inneren Bedingungen von Frieden, wozu auch soziale Gerechtigkeit gehörte. Das war alles nicht perfekt, aber es waren wichtige Impulse.

Also führt kein direkter Weg vom "Versailler Friedensdiktat" zum Zweiten Weltkrieg?

Die Vorstellung, die Friedensordnung sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, mag ich deshalb nicht, weil sie davon entlastet, sich mit anderen wichtigen Faktoren zu beschäftigen, etwa mit der Frage, was die Politiker aus den Möglichkeiten gemacht haben. Die Außenminister Gustav Stresemann und Aristide Briand bewiesen ja wenige Jahre nach der Konfrontation, wie schnell und wie weit eine deutsch-französische Aussöhnung gehen konnte. Wer die Schuld an der NS-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg allein auf die angeblich schlechte Weimarer Verfassung und den Versailler Vertrag schiebt, muss sich nicht mit der politischen Kultur der Zeit beschäftigen, mit der Militarisierung weiter Teile der Gesellschaft, mit dem Parteiensystem, mit der persönlichen Verantwortung etwa von Hindenburg.

Ihr letzter Satz lautet: "Wie es vielleicht gewesen ist: So müsste man beginnen." Was meint das?

Der Satz unterstreicht die Relativität der eigenen Perspektive, die immer aus der eigenen Gegenwart kommt - und sich generationell verändert. Ich habe dieses Buch auch geschrieben, um zu verstehen, wo die Wurzeln der aktuellen Multipolarität liegen, der Unübersichtlichkeit der Welt. Dafür ist 1918 - 23 ein echtes Scharnier. Vor allem wollte ich die Offenheit des historischen Moments verteidigen: dass man die Möglichkeit der vielen Entwicklungen ernst nehmen muss, die vergangenen Zukünfte. Wer allein von 1933 und 1939 her zurück auf 1918/19 sieht, verengt diese Offenheit zur Zwischenkriegszeit, verstellt den Blick auf die vielen nicht eingetretenen Wirklichkeiten. Sie gehören aber zum Möglichkeitshorizont der Zeitgenossen.

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Quelle:
SZ vom 22.10.2018
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