Süddeutsche Zeitung

Im Kino: "Jerichow":Verzweifelt unerotisch

Lesezeit: 4 min

Der grobschlächtige Ehemann, die gefangene Femme fatale an seiner Seite und der hungrige Fremde, der gefährliche Leidenschaften entfesselt: Christian Petzold perfektioniert die Kraft der Bilder.

T. Kniebe

Das Entscheidende ist hier wieder einmal recht schwer zu benennen. Aber so muss es sein. Was diese Kassiererin im Supermarkt bedeutet, die zum tausendsten Mal erklärt, dass man den Gutschein des Arbeitsamts nicht für Alkohol und Zigaretten einlösen kann, ist umständlich zu beschreiben, aber auf einen Blick zu sehen:

Hier wird der Zustand einer Zeit und einer Region im konkreten, sinnlichen Fundstück des Realen verdichtet. So sieht man dann auch die Sehnsucht einer Frau, die sich in der Art ausdrückt, wie sie auf einer Kinderschaukel schwingt, um dann weggerufen zu werden vom kontrollierenden Ehemann; die Vergangenheit eines Kämpfers, die sich darin zeigt, wie er einen Messerstecher entwaffnet; oder auch nur ein Ortsschild im Nirgendwo zwischen Baumarkt und Gewerbegebiet, das die Phantasie des Betrachters in Gang setzt: Jerichow.

Dem Filmemacher Christian Petzold kommt es auf genau diese Momente an. Man kann sogar sagen, dass sie der Grund seines Filmemachens sind. Aber eben nicht, weil er wie kein Zweiter in diesem Land die Absichten und Motive seines Schaffens erklären kann: Hinter jedem Bild ein ganzer Gedankenpalast, eine Meditation über das Wegbrechen der Industriegesellschaft, über Leben, Liebe und Freundschaft nach dem erzwungenen Ende der Erwerbsarbeit, über den Hang der Männer, ein Mausoleum für ihre Träume zu errichten, über den Instinkt der Frauen, vor der Erstarrung zu fliehen, über die Sinnlichkeit der Wanderarbeiter bei Renoir oder die Selbstermächtigung der Schlampen bei Bergman.

Sondern weil er von dort wieder zu einer Einfachheit zurückfindet, zu einer Szene, die er wirklich zeigen kann, zu einem Bild, das alles Gedachte und Gesprochene dann wieder überflüssig macht. Das gelingt ihm mit erstaunlicher Konstanz, in Filmen wie "Die innere Sicherheit", "Gespenster" und "Yella" - aber in "Jerichow" schafft er es, seine Methode noch einmal zu präzisieren.

Dieses Kino der Wahrheiten am Wegesrand hält sich dennoch an jene Übereinkunft mit dem Zuschauer, die auf Plot, Psychologie und Plausibilität basiert. Um Freiheit zu gewinnen für das, was ihm wichtig ist, sichert sich Petzold gründlich ab. Seine Gerüste haben ihre Tragfähigkeit meist schon im filmgeschichtlichen Ernstfall bewiesen.

In "Yella" baute er auf die Struktur einer Ambrose-Bierce-Erzählung und den Horrorklassiker "Carnival of Souls". In "Jerichow" benutzt er eine noch viel vertrautere Konstellation: Der grobschlächtige Ehemann und die gefangene Femme fatale an seiner Seite, das Geschäft, das sie ökonomisch aneinander bindet, und der hungrige Fremde, der dieses Arrangement dann sprengt und gefährliche Leidenschaften entfesselt. Das ist nichts anderes als James M. Cain und sein Postmann, der zweimal klingelt, adaptiert unter anderem schon von Visconti in "Ossessione" und auch von Bob Rafelson, mit Jack Nicholson und Jessica Lange, enthemmt auf dem berühmten Küchentisch.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum es bis zum Mordkomplott geht.

Bei Petzold ist der Ehemann Ali, gespielt von dem grimmig melancholischen Hilmi Sözer, ein türkischer Unternehmer in Sachsen-Anhalt, der in der Kleinstadt Jerichow und Umgebung ein Imbissbuden-Imperium aufgezogen hat und auf die denkbar mühsamste Art und Weise wohlhabend geworden ist: Die 2,99-Asiapfanne vor dem Einkaufszentrum macht am Ende eben auch Mist. Mit seinem Geld hat er eine blonde deutsche Ehefrau freigekauft, aus Knastvergangenheit und drückender Schuldenlast.

Dieser Laura, einer ungewöhnlich verlebten und doch rätselhaft mädchenhaften Nina Hoss, traut er nun genauso wenig wie seinen Subunternehmern, die ihn andauernd übers Ohr hauen. Dazu kommt dann Benno Fürmann, animalisch, gehetzt, als ehemaliger Afghanistan-Kämpfer Thomas, unehrenhaft aus der Bundeswehr entlassen, finanziell und auch sonst am Ende. Ali heuert ihn als Fahrer an, nicht ganz freiwillig, er hat den eigenen Führerschein gerade eingebüßt, und doch entsteht nun eine Art Vertrauen zwischen den Männern, augenblicklich unterminiert von einer explosiven Anziehung zwischen Thomas und Laura. Das geht, wie es die Vorlage vorzeichnet, bis zum Mordkomplott.

Das ist aber nur der Hintergrund, vor dem Petzold seine Entdeckungsreisen in die Wirklichkeit unternimmt, darin Visconti und seinem frühen Neorealismus ähnlich. Der Nicht-Geschmack der Asiapfanne soll auf den Lippen haften, die Verlorenheit der Getränkegroßmärkte und Fernfahrer-Autohöfe widerhallen, damit auch die Macht der Gefühle spürbar wird, die hier aufbrechen.

Brillant erschreckend

In den Fluchten aus dem Alltag wird das besonders klar: Wenn die drei zum Meer aufbrechen und versuchen, am Strand ein wenig zu feiern; wenn der betrunkene Ali seine Frau und den Angestellten eng zusammenschiebt, tanzen sollen sie, ausgelassen sein, nicht ewig so deutsch; und wenn daraus wenig später ein Fast-Beischlaf wird, so verzweifelt und unerotisch, dass einem der Ausdruck Notzucht wieder in den Sinn kommt. Die Not, die sich hier Bahn bricht, ist aber gar keine sexuelle.

Hier wird es dann wirklich interessant, gerade im Vergleich mit den anderen Verfilmungen des Stoffes. Den Sex einfach als zentrale Bewegungskraft zu behaupten und einzusetzen, in einem Nicholson-Lange-Küchentisch-Szenario, das geht im deutschen Film nicht, nicht mehr seit Fassbinder. Genauso wenig trägt noch die Dualität von materieller Sicherheit versus verzehrende Leidenschaft. Diese Ehefrau steht gar nicht mehr vor einer solchen Wahl. Über ihre Schulden mit Gefängnisvergangenheit und Ehevertrag muss Petzold sie doppelt und dreifach festketten, mehr als all ihre Vorgängerinnen, sonst würde sie sofort aus dem Film verschwinden.

Ihr Mann, der ein sehr deutsches Erfolg-durch-Fleiß-Credo verkörpert, bricht das mit seiner türkischen Identität, sonst würde auch das nicht mehr funktionieren. Und die Traurigkeit, mit der er die Sinnlosigkeit der eigenen Ambitionen durchschaut, macht ihn zur anrührendsten der drei Figuren. Der Rivale schließlich, bisher immer ein Drifter, hat hier nicht einmal mehr die Option des Weiterziehens.

Es stimmt, dass die Figuren unter der Tonnenlast dieser Zwänge seltsam unlebendig wirken - aber es taugt doch nicht als Vorwurf gegen diesen brillanten und erschreckenden Film. Seine Ausweglosigkeit ist aus den aktuellen Verhältnissen des Landes herausdestilliert, das in "Jerichow" erforscht wird, und nicht nur aus dem Formbedürfnis einer strengen Kino-Ästhetik.

JERICHOW, D 2008 - Regie, Buch: Christian Petzold. Kamera: Hans Fromm. Schnitt: Bettina Böhler. Musik: Stefan Will. Mit Benno Fürmann, Nina Hoss, Hilmi Sözer. Piffl Medien, 92 Minuten.

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SZ vom 7.1.2009/rus
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