Süddeutsche Zeitung

Politik und Affekte:Wir haben lang genug geliebt

Lesezeit: 5 min

Hass erscheint derzeit als prinzipiell antidemokratischer Affekt. Aber seine Tabuisierung schadet der Demokratie - er kann schließlich eine ungeheure gestalterische Kraft haben.

Von Felix Stephan

Identität sei ein Schrumpfwort, schrieb der Historiker Dan Diner kürzlich, ein Wort also, das erst auftaucht, wenn das, was es bezeichnet, schon im Schwinden begriffen ist. Solange jeder über eine unbestrittene Identität verfügt, gibt es keinen Anlass, darüber zu sprechen. Sie ist einfach unsichtbar. Ein Thema wird die Identität erst, wenn man sie verloren hat.

Der Verlust sorgt natürlich für Ärger, man hätte gern seine Identität wieder. Dass der Zorn in der Regel Leute trifft, die für die Gegner der Gesellschaft gehalten werden, wie sie früher auch nie gewesen ist, hat Adorno schon 1967 in seinem Vortrag "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" angemerkt, der vor Kurzem bei Suhrkamp erstmals im Druck erschienen ist (SZ vom 20. Juli). Dafür müssen sie nicht einmal im engeren Sinne verantwortlich sein für die Veränderungen, die vor sich gehen. Im Zweifel genügt ihre bloße Existenz, und die Wut entlädt sich auf Frauen, Minderheiten, Progressive.

Es gibt also handfeste Gründe dafür, dass neuerdings so häufig vom Hass die Rede ist. Wir befinden uns in einer Übergangszeit, Gewinner und Verlierer sortieren sich neu, die Plätze an der Sonne werden neu vergeben, und den Verlierern bleibt nicht viel mehr als der Hass als Gemeinschaftserlebnis. In den Neunzigerjahren hatte der Gangster-Rap mit Hass als Kulturtechnik einen Außenseiterstolz kultiviert, der seine Protagonisten heute zu Milliardären macht, und auch sonst funktioniert Hass heute wieder sehr gut. In Leitartikeln, "Tagesschau"-Kommentaren und Reden demokratischer Politiker häuft sich deshalb die Aufforderung, nach Möglichkeit doch bitte das Hassen einzustellen. Dass Hass einer Demokratie abträglich sei, scheint so etwas wie der letzte Konsens zu sein, der sich im ehemaligen Westen überhaupt noch herstellen lässt. Selbst die Coca-Cola in Berliner Bahnhöfen behauptet, Hass sei zum Feiern nicht in der Lage, die Liebe aber schon, und das ist nun wirklich kein gutes Zeichen.

Der Hass, der offenkundig gemeint ist, wenn sich Steinmeier, Macron, Maas, Obama und Coca-Cola gegen ihn aussprechen, ist aber nur ein Nebenprodukt. Das eigentliche Problem ist der globale Siegeszug einer sehr fassbaren Ideologie, eines rassistischen Nationalismus, der auf die Schriften von Renaud Camus, Alain de Benoist und Alexander Dugin zurückgeht und sich als demokratischer als die Demokratie ausgibt, weil er die Mehrheit gegen die Minderheiten vertrete. Als habe es je einen Faschismus gegeben, der sich nicht auf die Mehrheit berufen hat.

Nicht alles, was im Modus des Zorns vorgetragen wird, erledigt sich schon dadurch von selbst

Der Hass ist nur eine der Erscheinungsformen dieser Bewegung und nicht einmal die folgenschwerste. Vorangetrieben wird diese autoritäre Revolte nicht vom Hass, sondern von staatlichen und privaten Finanziers, von Netzwerken und Medien, die ihre Ideologie unter die Leute bringen, ihre wichtigste Energiequelle ist die globale Kapitalkonzentration, die ihre Positionen plausibel aussehen lässt.

In den Reden und Leitartikeln aber geht es auffällig häufig um das schlechte Betragen der Anhänger dieser Bewegung. Wenn zum Verzicht auf Hass aufgerufen wird, geht es deshalb immer auch um Entpolitisierung. Es wird nicht mehr über Ideologien und Strukturen gesprochen, sondern über Betragen und Zurechnungsfähigkeit. Es wird eine emotionale Hierarchie eingeführt zwischen den fragilen Artisten der Selbstkontrolle auf der einen und den übergeschnappten Irren auf der anderen Seite.

Es scheint eine gegenläufige Bewegung zu geben: Je liberaler die Märkte sind, desto strenger regulieren die einzelnen Marktteilnehmer ihr Innenleben. Man kann dieses Verhältnis seit einiger Zeit in der jüngeren Gegenwartsliteratur beobachten, zuletzt bei der irischen Autorin Sally Rooney. Mittlerweile scheint der Imperativ zur Affektkontrolle so streng ausgelegt zu werden, dass im Grunde alles, was im Modus des Zorns vorgetragen wird, sich schon allein dadurch von selbst erledigt.

Dabei ist der Hass auf die Verhältnisse, auf die Mächtigen und die Erniedrigung gerade Teil der demokratischen DNA, in Frankreich ohnehin, in Deutschland aber auch. Die deutsche Demokratie ruht auf den Schultern dieses Hasses, der Hass auf die Verhältnisse ist gewissermaßen ihr Gründungsmoment. Nehmen wir Georg Herwegh, einen der bekanntesten Dichter des Vormärz. In seinem "Lied vom Hasse" von 1841 heißt es in der zweiten Strophe: "Die Liebe kann uns helfen nicht,/die Liebe nicht erretten;/Halt' du, o Haß, dein jüngst Gericht,/Brich du, o Haß, die Ketten!/Und wo es noch Tyrannen gibt,/Die laßt uns keck erfassen;/Wir haben lang genug geliebt,/Und wollen endlich hassen."

Oder Georg Büchner, der nicht nur dem wichtigsten Literaturpreis der Bundesrepublik seinen Namen geliehen, sondern sich auch um die wichtige Unterscheidung zwischen Verachtung und Hass verdient gemacht hat. Der Hass, schrieb er im Frühjahr 1834 an seine Eltern, sei "so gut erlaubt als die Liebe, und ich hege ihn im vollsten Maße gegen die, welche verachten". Verachtung wiederum entdeckte Büchner in jedem "Aristocratismus", nicht zuletzt bei jenen, "die im Besitze einer lächerlichen Aeußerlichkeit, die man Bildung, oder eines todten Krams, den man Gelehrsamkeit heißt, die große Masse ihrer Brüder ihrem verachtenden Egoismus opfern". Auch die Gefühle, die Friedrich Nietzsche der Kirche entgegenbrachte, sind mit dem Begriff Hass relativ präzise beschrieben. Bei Klett-Cotta unterweist eine eigene Buchreihe ihre Leser darin, Theater, Kunst und Talkshows zu hassen, für den Fall, dass sie bei Thomas Bernhard noch nicht genug gelernt haben.

Kann man die Demokratie gegen ihre Feinde von oben verteidigen, wenn man den Hass ächtet?

Hass kann eine produktive, gestalterische Kraft sein, er kann Werke, Bewegungen, Revolutionen hervorbringen und die Gier und Selbstherrlichkeit der Mächtigen zähmen. Die Tabuisierung des Hasses hingegen unterstellt, dass man über alles reden kann und es für Hass im Grunde keinerlei Anlass gibt. Dabei gibt es natürlich auch heute eine Elite, die sich den Hass fleißig erarbeitet: durch die Austeritätspolitik des IWF, die Finanzialisierung der Demokratien, wie Joseph Vogl sie beschrieben hat, die Abschottungspolitik der EU an ihrer Südgrenze, die Steuervermeidungsstrategien der Großkonzerne, die Bereitschaft der Regierungen, mit dem Sicherheitsargument jegliches Grundrecht einzuschränken.

Auch für die Bürgerlichen, die Grünen und die Linken hätten die politischen Großentscheidungen der vergangenen zwei, drei Jahrzehnte einigen Anlass zum Hass geboten. Die Frage ist hier eher, warum es eigentlich so gespenstisch ruhig bleibt. Zuletzt hat sich der Investmentbanker und Erzähler in Alexander Schimmelbuschs Roman "Hochdeutschland" über die Duldsamkeit der bürgerlichen Gesellschaft gewundert, als er gerade wieder einige Millionen Euro an Steuergeldern hinterhergeworfen bekam: "Warum ölte niemand eine Guillotine?" Wie soll man die Demokratie verteidigen gegen ihre Feinde von oben, wenn der Hass zur Mobilisierung nicht mehr zur Verfügung steht?

Vielleicht ist der Verlust des Hasses als politische Ressource der Preis, den die Demokratie für ihre integrative Ambition zahlt. Für den Kampf der Geknechteten gegen Tyrannen hat sich der Hass immer wieder als außerordentlich nützlich erwiesen. Beim Kampf für die Gleichbehandlung aller Bürger unabhängig von Geschlecht, Ethnie oder Religion aber ist er eher hinderlich.

Mit diesem Dilemma, das kaum aufzulösen ist, muss sich die autoritäre Rechte nicht herumschlagen, schließlich ist sie an Gleichheit oder auch nur Gleichbehandlung nicht im Geringsten interessiert. Der politische Hass, den die Linken, die Bürgerlichen und die Liberalen unangetastet verfallen lassen, steht derzeit der Rechten zur freien Verfügung. Wie erfolgreich sie ihn kanalisiert, lässt sich nicht übersehen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4567186
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.08.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.