Süddeutsche Zeitung

"Harry's House" von Harry Styles:Himbeerbrausig

Lesezeit: 4 min

Auf dem großen Marktplatz für Eskapismus gibt es gerade kaum etwas, das sich so konsequent gegen alles Böse und Schmutzige abschottet. Über das tolle neue Album von Harry Styles.

Von Joachim Hentschel

Harry Styles, das ist der Mann, der auf Fotos die gut gefärbten Wollpullöverchen, die Schlaghosen aus teuren Häusern oder auch die eigenen, nackten Rippen so wunderbar trägt wie kaum ein anderer. Ein Model, ein Dressman, ein Coverboy für den weißen Middleclass-Geschmack. Aber eben auch, was ja nicht mal ein Widerspruch sein muss: ein echter Künstler. Wenn es nicht so sehr nach Fanclub-Fiction klänge, man müsste sogar sagen: ein Magier. In jedem Fall: Ein freundlicher Geist.

Denn Styles, 28, Engländer, Premium-Popstar mit der üblichen Millionen-Alben-und-Grammy-Bilanz, besitzt ein außergewöhnliches Talent. Eine Fähigkeit, die man unbedingt beobachten, aber leider nur bedingt erklären kann. Denn wenn er singt und spielt, dann fühlen sich auch Zuschauerinnen und Zuschauer jenseits der 25 plötzlich in einen seltsamen Urzustand zurückversetzt. In eine Art Reboot-Modus der eigenen Kulturerfahrung. In eine Stimmung, die ganz fantastisch himbeerbrausig nach Teenagersein schmeckt, dabei aber nichts mit Erinnerung oder nostalgischem Echo zu tun hat.

Ihm zuzuhören, diesem smarten Speedy Gonzales des Kopfhörerstöpsel-Pop, kann also zu einer Art von immersivem Rollenspiel werden, in dem man noch einmal die gesamte Verzückung, Erregung und Selbstvergessenheit des jugendlichen Existierens erleben kann, ohne dabei die Füße vom realen Boden zu nehmen. Robbie Williams beherrschte das auch, aber bei ihm reichte es nur für zwei, drei Sommer. Die tatsächlich jungen Leute, die am Ende wohl den größten Anteil von Styles' weltweiter Anhängerschaft ausmachen, haben eh sofort alles kapiert.

"Watermelon Sugar" zum Beispiel, den Styles-Song, der im Frühjahr 2020 zwar schon einige Monate alt war, aber mit einem neuen Badestrandvideo genau in die erste große Covid-Verunsicherung hineinveröffentlicht wurde. "This video is dedicated to touching", schrieb der Künstler auf eine einleitende Texttafel. Schwer zu übersetzen: "Dieses Video widme ich dem Akt des Sich-gegenseitig-Berührens." Ein elementares, kohortenübergreifendes Gefühlsding, wegen Ansteckungsgefahr gestoppt, für wer weiß, wie lange. Und an diese unscharfe Sehnsucht setzte sich eben "Watermelon Sugar" wie die saugenden Lippen ans Melonenfleisch. Ein glühender, schmerzensreich süßer Soul-Schunkler, angeblich inspiriert von Richard Brautigans Roman "In Wassermelonen Zucker", und natürlich kam Styles damit unter anderem in den USA bis Platz eins der Charts. Gewann ein knappes Jahr später einen Grammy dafür, den er unrasiert, zerwuschelt und mit einer langen pinken Stola über dem gelbschwarz karierten Tweedjackett entgegennahm.

Und man muss, wenn nun "Harry's House" erscheint, sein insgesamt drittes Album, gar nicht viel mehr wissen als dies: Harry Styles, der Mensch, ist ein Mann mit vielen, vielen Bildern - aber ohne wirkliche Eigenschaften. Als Typ materialisiert er sich eigentlich erst in seiner Musik so richtig. Und in diesen 13 Liedern erkennt man dann auch sofort die Eckpfeiler des ästhetischen Gebäudes, auf das der Plattentitel möglicherweise anspielt. Und das wie immer eine Menge Türen hat, durch die man rein und wieder raus kann.

Vieles hier hat den herrlich bedröhnt-verwaschenen Groove von gutem, metrosexuellem Late-Night-Funk

Denn so sexy Styles auf dem Papier auch sein mag: Sein Pop verzichtet auf alle zu weit ausschweifenden Hüftschwünge, auf die R'n'B-Koketterie, die ihm ja jeder Produzent der Welt problemlos hätte programmieren können - und die den Bemühungen des historischen Mitbewerbers Justin Timberlake ja oft etwas latent Verzweifeltes und Gefallsüchtiges gaben. Reinweißer Kartoffelstampf aus 80er-Elektrohits und 90er-Britpop ist "Harry's House" allerdings auch wieder nicht, obwohl das gelegentlich über Styles' Musik und Erfolgsgeheimnis behauptet wird. Klar: Er hat sich ein erfrischend altmodisches Verständnis von Melodik und Eingängigkeit bewahrt. Dennoch besitzt vieles hier den herrlich bedröhnt-verwaschenen Groove von gutem, metrosexuellem Late-Night-Funk. Auf dem großen Marktplatz für Eskapismus gibt es derzeit kaum bessere Angebote, die sich so konsequent gegen alles Böse und Schmutzige abschotten.

Dabei zählt Styles zu den wenigen nachhaltig faszinierenden Figuren, die mit Hilfe der TV-Castingshows gefunden wurden, die nach der Jahrtausendwende so breit beliebt wurden. Beim britischen "The X Factor" war er 2010 zum ersten Mal öffentlich zu sehen, als 16-jähriger Wackelkandidat, der mühsam Stevie Wonders "Isn't She Lovely" sang. Die von den Showproduzenten zusammengestellte Gruppe One Direction belegte am Ende den dritten Platz - und wurde anschließend zur britischen Teenagersensation mit kaum fassbarem USA-Erfolg: Ihre ersten vier Alben stiegen alle auf Platz eins in die Billboard-Charts ein. Ein Rekord. 2016 kündigten die vier Mitglieder an, das gemeinsame Projekt ruhen zu lassen, um solo voranzukommen. Es gab bis heute keine Trennung, nicht mal einen vernünftigen Zank. Was man langweilig oder vorbildlich finden kann.

Und wenn man "Harry's House" am Ende doch noch etwas aufmerksamer hört, als es beim fröhlichen Joggen und Gin-Tonic-Trinken, Quiche-Backen oder Gesichtsmasken-einwirken-Lassen möglich ist - dann bemerkt man, dass Styles sich in der Tat etwas tiefer mit diesem Thema beschäftigt: Was macht heute eigentlich Gemeinschaften aus, wie gestalten sich Communities, im großen und kleinen Stil? So empfiehlt er dem Mädchen in "Matilda", einer besonnenen Gitarrenballade, zur Party auf keinen Fall ihre Eltern und Geschwister einzuladen, denn die hätten sich ja nie um sie geschert. "Gründe lieber deine eigene Familie, die dich immer lieben wird", rät der Erzähler, und auch ohne weitere Erläuterung ist klar, dass er hier sicher kein klassisches Modell mit heteronormativer Fortpflanzung meint.

"Boyfriends" ist der anrührendste Moment des Albums. Ein karges, an Simon & Garfunkel erinnerndes häusliches Drama. "Du liebst einen Idioten, der einfach nur weiß, welche Knöpfe er bei dir drücken muss", fasst er hier den Beziehungsstatus der Angesprochenen zusammen, die sich nur auf die Kategorie Partnerschaft zu berufen scheint, um das Gespenst der Einsamkeit zu vertreiben. So kann man "Harry's House" denn am Ende auch hören: als geräumiges Plädoyer für Communities, die ohne traditionelle Definitionen auskommen. Als Versuch, den sozialen Individualismus zu transzendieren, ohne dabei in die bereits überholten Zustände zurückzufallen.

Anders gesagt: Ein WG-Zimmer in Harrys Haus könnte sicher der beste denkbare Rückzugsort sein. Ewige Jugend, wirklich gute Partys. Man muss sich nur die Miete leisten können.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5589036
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.