Süddeutsche Zeitung

Schreibschrift-Debatte:Das verlernte Handwerk

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Von Gerhard Matzig

Es ist, als würde man einem nervösen Fahrschüler zunächst einschärfen, er solle sich zur Orientierung auf die Mittellinie der Straße konzentrieren. Doch dann sagt man ihm: Vergiss es, beachte die Außenlinie! Schließlich wird er in den Verkehrsalltag entlassen - und, huch: Die Leitplanken hat man abmontiert und die Straße ist verschwunden. Ebenso wie bislang bekannte Hilfslinien und pädagogisch wirksame Spurhalteassistenzsysteme. Chaos ist die Folge.

So ergeht es seit langer Zeit den Schülern, Eltern, Lehrern und sonstigen Opfern einer emsigen Bildungspolitik, die von der Bildungsmisere nicht zu unterscheiden ist. Nach dem Krieg - Kurrentschrift und Sütterlin waren bald passé - etablierte sich in der BRD ab 1953 die "Lateinische Ausgangsschrift", während in der DDR seit 1968 die "Schulausgangsschrift" gelehrt wurde. Beide Schriften sind sich ähnlich. Vor allem eint sie eines: Beide gehen von der Grundlinie aus. Auf eine simple, aber praktikable Weise. Auf dieser Linie beginnend formt man mit gerundeten Auf- und Abschwüngen eine zusammenhängende Schrift aus der verabredeten, zugleich modulierbaren Abfolge von Buchstaben. Im Grunde ist das der Inbegriff einer Handwerkstechnik. Zugegeben, man muss sie üben, um es darin zum so sinnlichen wie sinnstiftenden Vergnügen einer fließend dahineilenden, individuell ausdrucksstarken Schreibkunst zu bringen. Leicht ist es nicht, unmöglich auch nicht. Das Schreiben ist dann nicht Qual, sondern Freude. Und zivilisatorische Höchstleistung.

Doch ab 1973 wurde im Westen alternativ (weil leichter zu erlernen, angeblich) die "Vereinfachte Ausgangsschrift" unterrichtet. Bei ihr orientieren sich die Verbindungsschwünge nicht mehr an der Grund-, sondern an der Mittellinie darüber. Dumm nur - von wegen: leichter -, dass es diese Hilfslinie in den normierten Schreibheften ab der 4. Klasse nicht mehr gibt. Die Leitplanke ist nun also weg. Mit einem Mal.

Die Grundschrift ist eine Schrift für das Maschinenzeitalter - nur ohne Maschinen

Um aus den Irrungen Wirrungen zu machen, etablierten Menschen, die das Schülerquälen aus Berufung betreiben (immer in der eigenwilligen Annahme, man könne alles für alle einfach machen, indem man alles für alle verkompliziert), nach der Jahrtausendwende eine weitere Variante: die sogenannte Grundschrift. Bei dieser Schrift werden die Buchstaben, einer ästhetischen wie pädagogischen Kapitulation folgend, gar nicht mehr verbunden. Es ist eine Druckschrift - nur eben ohne Druck. Es ist eine Schrift für das Maschinenzeitalter - leider ohne Maschinen.

Muss man noch erwähnen, dass in einem föderal organisierten, wenn nicht föderal desorientierten Bildungssystem jedes Bundesland und bald auch jede Schule für sich entscheidet, wie Kinder schreiben oder auch nicht schreiben lernen?

Inmitten dieser Degeneration der analogen Schreibschrift, die außerdem vom Siegeszug der Digitalisierung und ihrer wischenden, daumentippenden oder emoticonisierenden Apologeten überlagert wird, besitzt aktuell die "Siegener Erklärung zur Schrift in der Schule" einige Brisanz. Dahinter steckt etwa die Gesamtschullehrerin und Fachautorin Maria-Anna Schulze Brüning, die mehr als eintausend Schriftproben von Mittel- und Realschülern sowie Gymnasiasten ausgewertet hat. Ergebnis: Jeder sechste Fünft- und Sechstklässler hat, wie es der Spiegel griffig formuliert, eine "Sauklaue", also eine schwer bis gar nicht zu entziffernde Schreibschrift. Eine Studie des Siegener Didaktikprofessors Wolfgang Steinig belegt außerdem eine Verbindung zwischen der Qualität des Schriftbildes und der Qualität der Sprachform. Kurz gefasst: Die Sauklaue ist auch ein Indikator für gewisse Defizite in Rechtschreibung, Grammatik und Ausdruck.

In Berlin, Hamburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und im Saarland ist sie immer noch Erstschreibschrift: die DDR-Schulausgangsschrift

Auch deshalb wird nun die Ära der Vereinfachten Ausgangsschrift, die auf alle mutmaßlich schmückenden, aber identifikatorischen Elemente verzichtet, eher negativ bilanziert. Und die Praxis vieler Schulen, Kinder zunächst in Druckschrift schreiben zu lassen und die Schreibschrift erst später einzuführen, behindere sogar die Entwicklung einer flüssigen Schreibschrift. Manche Experten fordern sogar die Rückkehr zur DDR-Schulausgangsschrift - die übrigens noch immer in Berlin, Hamburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und im Saarland als Erstschreibschrift gilt. Bis auf ein paar Schnörkel entspricht sie der im Westen bis in die Achtzigerjahre verbreiteten Lateinischen Ausgangsschrift. Die Mehrheit der Bevölkerung schreibt auf diese Weise.

Ältere Studien belegen auf dem Terrain des Schreibens schon längst einen Zusammenhang zwischen feinmotorischen und intellektuellen Fähigkeiten. Auch ist erwiesen, dass Kinder die Sprache generell leichter erlernen, wenn das Gedachte mit dem zu Schreibenden in aller Komplexität einhergeht. Hand und Kopf arbeiten gemeinsam - wobei das Schreiben als Erfahrung materieller Unmittelbarkeit der Tastatur überlegen ist. Immerhin darf man sich über die im Rechner (kein Schreiber, wie es scheint) geschriebenen Computertexte noch freuen, denn in der Digitalisierung verdrängt die aufkommende Voice-Kultur der Sprachbefehle jedwedes Schreiben.

Es ist wirklich seltsam. Nie zuvor gab es, als eine Art Analog-Backlash, einen solchen Boom edler Schreibgeräte und angesagter Papeterien. Das Moleskine-Notizbuch ist die It-Bag der Gegenwart, Handlettering das neue Yoga. Die Renaissance des Schreibenwollens ist da - nur das Schreibenkönnen dürfte bald fehlen.

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Quelle:
SZ vom 07.05.2019
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