Süddeutsche Zeitung

Günter Grass' Erbe:Sein Herzschrittmacher

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Der Fotograf Hans Grunert inventarisiert hinterlassene Gegenstände aus dem Atelier des 2015 gestorbenen Literaturnobelpreisträgers Günter Grass.

Von Lothar Müller

Fast alle Dinge werfen Schatten auf diesen Bildern. Dafür hat der Fotograf Hans Grunert gesorgt, als er sie vor dem gleichen Hintergrund aufgenommen hat, einer hellgrauen Fläche. Mal liegt ein Strohhut darauf, mal eine rostige Schere, mal das rote Farbband der Olivetti Schreibmaschine in seiner schwarzen Spule. Diskret beglaubigen auf diesen Farbfotografien die Schatten die Dreidimensionalität der Dinge. Der Raum, dem sie entstammen, ist ihnen abhandengekommen, die Werkstatt des 2015 verstorbenen Schriftstellers Günter Grass in der Remise seines Wohnhauses in Behlendorf, in dem er die letzten dreißig Jahre seines Lebens verbrachte.

Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering beschreibt diesen Raum aus eigener Erinnerung im Begleittext zu diesem Bildband. Werkstatt heißt er, weil Grass nicht nur Autor war, sondern auch bildender Künstler, der stets das Handwerkliche seiner Kunst betonte. Ein Kohledruckstift liegt auf der hellgrauen Fläche, ein aufgeklappter Reiseaquarellkasten, ein Blatt Recyclingpapier aus dem VEB Nordhausen in der DDR und eine kupferne Radierplatte, so flach, dass sie wie das Papier keinen Schatten wirft.

Eine Antwort auf die Frage nach dem Moment, in dem die Kamera sie erfasst hat, könnte sein: in dem Moment, in dem sie sich auf den Weg ins Archiv machen. Mag sein, sie gehen später in eine Ausstellung ein. Nicht nur die Olivetti Schreibmaschine des Typs Lettera 22, der Montblanc-Füllfederhalter und die Montblanc-Tinte, die grünen Faber-CastellBleistifte in ihrer altgedienten Blechschachtel.

Längst sind die Zeiten vorbei, in denen in Literaturausstellungen die Schriftsteller nur als lesende oder schreibende Wesen auftraten, umgeben von ihren Büchern, Manuskripten, Briefen. Längst gehören, wie hier, der Personalausweis und der Herzschrittmacher, die Pfeife, die angebrochene Packung Zigarettentabak zum Selberdrehen ("Schwarzer Krause No 1"), die Kochmütze dazu. Und unterhalten nicht die Sammlungsstücke dieses Autors aus dem Tier- und Pflanzenreich, die Unke, das versteinerte Schneckenhaus, der Pilz und der Salamander, enge Beziehungen zu seinem Werk? So würden sie in einer Ausstellung gezeigt, mit Kommentaren versehen.

Die kühle Kamera des Fotografen Hans Grunert folgt einer anderen Idee. Sie weist die assoziative Verknüpfung der Dinge mit dem Leben und Werk des Autors nicht ab. Aber sie zeigt die Dinge als Objekte, die aus seiner Obhut entlassen sind, als visuelle Inventarliste eines Nachlasses. Vor dem Hintergrund des immergleichen hellgrauen Rechtecks gewinnen sie ein ästhetisches Eigenleben. Die Streichhölzer in der runden Schale des kleinen bronzenen Aschenbechers und die rostigen Nägel liegen wie Mikadostäbe übereinander, der Heizlüfter, der zusammengelegte Klapphocker und der gefaltete dreibeinige Sitzstuhl sehen aus wie objets trouvés. Ja, alle diese Dinge entstammen der Werkstatt von Günter Grass. Aber zugleich dem Atelier des Fotografen Hans Grunert.

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