Süddeutsche Zeitung

Netzkolumne:Mensch als Drohne

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Zukunft der Arbeit? Die "Gig Economy" ist eher ein Rückfall in Zeiten vor dem Sozialstaat. Doch jetzt nehmen die prekären Jobber die Sache selbst in die Hand.

Von Michael Moorstedt

Was für manche neoliberale Vordenker noch immer als die Zukunft der Arbeit gilt, ist in Wahrheit ein rechter Scheißjob. Die Rede ist natürlich von der sogenannten Gig Economy. Zum Beispiel beim Lieferdienst Gorillas. Angesichts der Milliardenbewertung durch Investoren vergisst man da schon mal jahrhundertealte Errungenschaften des Sozialstaats wie das Arbeitsrecht. Das Drama um die Frage, ob auch die prekär Beschäftigten des Unternehmens überhaupt einen Betriebsrat wählen dürfen, zieht sich jedenfalls seit mehr als einem Jahr hin. Erst letzte Woche hat der Lieferdienst angekündigt, erneut gerichtlich gegen den Betriebsrat vorgehen zu wollen.

Von smarten Spin-Doktoren als Möglichkeit gelabelt, Selbstbestimmung und Erwerbsarbeit miteinander zu vereinen, ist Gig-Arbeit in Wahrheit inhärent unmenschlich. Denn egal, ob Liefer- oder Fahrdienst: Der Mensch wird in ihr zur Drohne. Die Anweisungen erhält man von einem Algorithmus auf das Smartphone. Die Software hat Weisungsbefugnis und sagt, wer wann wo eingesetzt wird. Mitspracherecht? Eher nicht.

Neben den ohnehin miesen Arbeitsbedingungen geht es vor allem um das Problem mangelnder Rechenschaft. Denn ohne menschlichen Ansprechpartner ist Einspruch zwecklos. Schon oft wunderten sich Uber-Fahrer darüber, dass sie vom System nicht berücksichtigt werden. Wer seine Quote nicht erfüllt, wird im Stillen zurückgestuft und bekommt keine Aufträge mehr. "Shadowban" nennt sich das in moderner Sprache. Selbst die Trinkgelder, die manche Kunden geben, bevor sie sich nach Lieferung zurück auf die "Tatort"-Couch setzen, werden oft genug von den Unternehmen einbehalten.

Die Gig-Arbeiter wehren sich mit eigenen Tracking-Apps gegen die Ausbeutung

Der Arbeitskampf im 21. Jahrhundert wird jedoch nicht nur an den bekannten Fronten wie Lohngerechtigkeit oder Selbstbestimmung ausgefochten. Sondern betrifft auch neue Schlachtfelder wie Big-Data-Analysen. Denn die Regeln, nach denen man bevorzugt oder nicht beachtet wird, bleiben undurchsichtig. Nach der Datenschutzgrundverordnung der EU darf zwar jeder einzelne Gig-Arbeiter Auskunft über die von ihm erhobenen Daten einholen - das hilft aber nicht, um ein umfassendes und für alle gültiges Regelwerk zu etablieren, das dafür sorgen könnte, den Plattform-Arbeitern mehr Einsichten zu gewähren.

Um die Machtverhältnisse ein bisschen ausgewogener zu gestalten, haben in den vergangenen Monaten Softwareentwickler zahlreiche Apps veröffentlicht, die dabei helfen sollen, kollektiv Arbeitszeiten zu erfassen, Lohndiebstahl zu erkennen, Unterbezahlung zu verfolgen, Daten zu sammeln und nicht zuletzt Solidarität aufzubauen und sich zu organisieren.

Weil neue Formen der Beschäftigung auch neue Formen der Beobachtung von Arbeitsverhältnissen nötig machen, erhalten die Gig-Jobber durch Apps wie weclock.it eine Art Selftracking-Tool, das ermöglicht zu analysieren, wie viele Arbeitsstunden unbezahlt sind - ein wichtiges Anliegen für Arbeitnehmer, die eben pro "Gig" bezahlt werden, aber oft stundenlang im Leerlauf auf Aufträge warten.

Anstatt nur auf die Willkür der Algorithmen angewiesen zu sein, versprechen diese Programme Antworten auf essenzielle Fragen: Welche Plattform ist die richtige für mich? Welche Arbeitszeiten sind am lukrativsten? Oder auch: Lohnt sich das überhaupt? Andere Projekte gehen noch einen Schritt weiter und versuchen sich am Aufbau von Lieferplattformen, die sich kollektiv im Besitz der Arbeiter selbst befinden. So dreht der Geist der Geschichte mal wieder eine neue Runde. Nach Schweinekapitalismus kommt jetzt der Kommunismus.

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