Süddeutsche Zeitung

Geschwister-Scholl-Preis:Arbeite und überlebe

Lesezeit: 3 min

Hisham Matar lebt seit Jahrzehnten in London. Aber das Verschwinden seines Vaters in den libyschen Gefängnissen hat ihn nie losgelassen. Kurz nach dem arabischen Frühling, 2012, kehrt er zum ersten Mal nach 33 Jahren in seine Heimat zurück.

Von Johanna Pfund

Leise und vorsichtig tastet sich Hisham Matar vor. Von der ersten Ebene, der Rückkehr in sein Heimatland Libyen nach 33 langen Jahren. Dann zur zweiten Ebene, dem Umgang mit der Abwesenheit und dem ungewissen Schicksal seines Vaters, eines Dissidenten, der im ägyptischen Exil entführt, danach irgendwo in den Tiefen libyscher Gefängnisse verschwunden und seitdem nie mehr, nicht einmal als Toter, wieder aufgetaucht ist. Und schließlich zur dritten Ebene, der wechselvollen Geschichte Libyens von der Osmanenzeit bis zum Arabischen Frühling. Matars Buch "Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater" ist weit mehr als ein autobiografischer Roman - es erzählt von Mut, Resignation, Verlust, der Suche nach der eigenen Seele und der des Landes.

So verwundert es nicht, dass die Wahl der Jury des Geschwister-Scholl-Preises auf das Buch von Matar fiel. Es sei "ein Buch über die überwältigende Widerstandskraft des menschlichen Geistes und über die Tugenden der Erinnerung, die dieser Erfahrung gerecht werden will: Beharrlichkeit, Sorgfalt und Vorsicht", so lautet die Begründung. Die Jury des Scholl-Preises ist aber dieses Mal nur Zweiter in Sachen Preisverleihung. Schon im Frühjahr hat Hisham Matar für "Die Rückkehr" eine der höchsten Auszeichnungen der Literaturwelt erhalten: den Pulitzerpreis in der Sparte Biografie und Autobiografie. In der Tat hat Matar eine Geschichte geschrieben, die immer eindringlicher, aber nie aufdringlich wird und als Roman wie als Dokument eine enorme Wirkung entfaltet.

Zunächst scheint alles harmlos. Ein Mann kehrt in das Land zurück, das er als Neunjähriger mit Mutter und Bruder verlassen hat, weil der Vater, einst im diplomatischen Dienst und wohlhabender Geschäftsmann, sich gegen das Regime von Muammar al-Gaddafi wendet. Ein Jahr später folgt der Vater, Jaballa Matar, seiner Familie ins Exil nach Kairo. Einige Jahre scheint alles gut. Heimlich aber unterstützt der Vater Widerstandsgruppen, wird unvorsichtiger und schließlich im vermeintlich sicheren Ägypten entführt und an Libyen ausgeliefert. 1990. Hisham Matar ist zu diesem Zeitpunkt bereits in London zum Studium. Was kann ihm da passieren? Vieles.

Da ist die nagende Ungewissheit. Bis auf drei Briefe hört die Familie nichts bis Mitte der 1990er. 2011, nachdem die Häftlinge aus dem Gefängnis Abu Salim befreit worden waren, regt sich Hoffnung bei Hisham. Wurde sein Vater doch nicht umgebracht 1996 bei dem Massaker in Abu Salim, dem mehr als 1200 Menschen zum Opfer fielen? Soll Hisham nach Libyen zurückkehren und ihn suchen? Ein kalter Oktoberabend, ein Spaziergang in New York bringt ihm die Erkenntnis: "Nie nach Libyen zurückzukehren bedeutete, mir nie mehr zu erlauben, darüber nachzudenken, was letztlich auch eine Form von Widerstand war, und von Widerstand hatte ich genug."

Hisham Matar hat es lange versucht mit Protest - wie erst in der zweiten Hälfte des Buches klar wird. Er baut sich ein Netz von Freunden auf, schreibt 300 Briefe an verschiedene Organisationen, an Libyens Politiker, um etwas über seinen Vater herauszufinden. Mit Saif al-Islam, dem Sohn Gaddafis, trifft er sich Anfang der 2000er- Jahre wiederholt in London. Er solle Geduld haben, wird ihm beschieden. Schließlich fordern die Libyer von ihm, einem ägyptischen Journalisten ein weiteres Interview zu geben, bevor er Informationen bekommt. Hisham verweigert dies, nachdem er erfährt, dass dies eine Falle ist.

Ganz erfolglos ist Hisham aber nicht: Sein Onkel und weitere Verwandte kommen schließlich frei. Die Verwandtschaft lernt er erst bei seiner Rückkehr richtig kennen. Das Universum aus Cousins, Cousinen, Tanten und Onkel. Die Geschichte seines Großvaters Hamed, der in den 1930ern von den italienischen Besatzern verhaftet worden war, und den es immer wieder in die Wüste hinauszog. Hisham puzzelt für sich und die Leser nebenbei die kaum erforschte Geschichte seines Landes zusammen. Vom Genozid, den Mussolini in Libyen angerichtet hat, bis hin zu den Gräuel der Kämpfe 2011, die sich in Nebengeschichten mit aller Wucht entfalten: Da ist die Episode von einem Mann, der am Telefon erzählt, es sei alles gut, sein Sohn sei bei ihm. Deshalb könne er ihn auch würdevoll bestatten.

Auch erfährt Hisham erst bei seiner Rückkehr, dass sein Vater vom Exil aus den Höllentrip durch Libyen wagte, nur um seinen Vater zu sehen. Genau das Gleiche, schreibt Hisham, würde er machen, hätte er die Chance. "Der Körper meines Vaters ist nicht mehr da, aber sein Raum existiert noch und wird von etwas eingenommen, das nicht nur Erinnerung genannt werden kann." Angesichts dieser bitteren Erkenntnis, dieser Lücke, rettet ihn nur ein Spruch seines Vaters: "Arbeite und überlebe."

Hisham Matar, Die Rückkehr. Lesung des Geschwister-Scholl-Preisträgers, 21.11, 20 Uhr, Lehmkuhl

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3722728
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.11.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.