Süddeutsche Zeitung

Literatur-Spezial im Frühjahr:Vielfalt macht nun mal Arbeit

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Ein Vorwurf an die Literatur: sie sei nicht für alle da, nicht divers genug, nicht inklusiv genug, keine Gleichberechtigung. Zu Besuch bei Leuten, die das ändern wollen.

Von Marie Schmidt

Zählen nervt brutal. Es ist langweilig und geistlos, und man kommt damit immer zu anderen Ergebnissen, als man durch Nachdenken und Reden schon erreicht zu haben glaubte. Der Literaturbetrieb zum Beispiel zählt mit Leidenschaft Frauen und Männer. Zumindest, wenn er nicht aus seinen Routinen gebracht wird, wie jetzt vom Coronavirus, dessentwegen die Leipziger Frühjahrsbuchmesse dieses Jahr ausfällt. Normalerweise wird auf solchen Veranstaltungen über die neuesten Aufstellungen diskutiert: Unter den Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse, in Besprechungen (auch in unserem Literatur-Spezial, SZ Plus), Verlagsprogrammen, Jurys, überall werden Autorinnen, Preisträgerinnen, Kritikerinnen gegen ihre männlichen Kollegen aufgerechnet.

Das ist vielleicht buchhalterisch und altmodisch. Aber eben auch der bisher besterforschte Anwendungsbereich einer brennenden Frage: Ist Literatur eigentlich für alle da, oder für manche mehr und für manche weniger? Ist der Zugang zu Literatur, der ja viel idealistischer gehandelt wird, als, sagen wir, der Zugang zu Mietwohnungen oder Aufsichtsratsposten, auch fairer verteilt? Diese Fragen werden im Moment an allen Ecken und Enden gestellt und auf verblüffende Art beantwortet. Wenn man sich darauf einlässt und nicht sofort "Political Correctness" plärrt, versteht sich.

Wobei heute niemand mehr behaupten würde, dass Schriftstellerinnen nicht genauso aufregende Bücher schreiben wie Schriftsteller. Wenn nicht aufregendere. Es gibt ein riesiges Interesse an Büchern von Frauen, nachdem sozialer Wandel im ansonsten ausweglos kapitalistisch vor sich hin schnurrenden Westen zuletzt maßgeblich von Frauenbewegungen ausging, "Me Too" zum Beispiel. Schriftstellerinnen müssen sich seitdem auch fragen, wie sie mit der rasenden Nachfrage nach ihren Gesichtern und Geschichten umgehen wollen. Das ist etwa der aktuellen Ausgabe der Literaturzeitschrift Allmende zu entnehmen ( Mitteldeutscher Verlag, 12 Euro). Unter dem Titel "Neuer Feminismus?" erzählen da in den Achtziger- und Neunzigerjahren geborene Autorinnen, wie merkwürdig ihnen der Feminismus als "Trendthema" vorkommt.

Je prestigeträchtiger der Verlag, desto mehr Männer im Programm?

Wir wären also so weit. Gleiche Aufmerksamkeit für Männer und Frauen ist nicht eine dieser Ideen, die gut sind, aber für die die Welt noch nicht bereit ist. Nur zeigen die Zahlen, dass sie trotzdem nicht durchschlägt. Die Initiative "Frauen zählen" und das Innsbrucker Zeitungsarchiv kamen 2018 zu gleichen Ergebnissen: Zwei Drittel aller Bücher, die wir hier, also in den deutschsprachigen Medien besprochen haben, waren von männlichen Autoren, drei Viertel der Rezensenten männlich. Um dem Argument zu begegnen, es gebe da einfach weniger zu besprechen, zählten die Buchbloggerin Nicole Seifert und die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Berit Glanz in diesem Frühjahr Verlagsprogramme aus. Tatsächlich fanden sie alles zwischen null und hundert Prozent an Büchern von Frauen bei Verlagen und Imprints. Neben Kinderbuchverlagen sind es aber vor allem Verlage für Genreliteratur, die viele Autorinnen haben: "Je höher das literarische Prestige eines Verlages", resümieren Seifert und Glanz, "desto mehr scheint er auf Männer im Programm zu setzen." Prestige wird nebenbei auch mit Literaturpreisen verteilt, und da gibt es, nachdem die Long- und Shortlists jahrzehntelang nur um ein Drittel Frauen zählten, in den letzten Preiszyklen ein erkennbares Bemühen um Parität. In Redaktionen und Verlagen natürlich auch, es macht sich nur offenbar viel langsamer bemerkbar.

Also, Zahlen nerven, aber sie tun Not, damit die Frage, warum trotz allen guten Willens selbst in der Bücherwelt noch Männer die Überhand haben, immer wieder gestellt wird. Während wir dafür im Aschenputtel-Modus Frauenbücher und Männerbücher verlesen, zählen andere aber schon weiter. Auf Twitter gibt es neben der Seite "Und wie viele Frauen?" den Account "Und wie viele BPoC?" Die Abkürzung kommt aus den USA und steht für "Black and People of Colour", Schwarze und Menschen nicht weißer Hautfarbe. Sie grenzen sich mit dem Akronym von anderen Bezeichnungen ab, die ihnen sich kulturell dominant gebärdende Weiße geben. Obwohl es jetzt auch im Deutschen in Gebrauch ist, trifft die Abgrenzungsgeste, die alle einbegreift, die Rassismus ausgesetzt sind, hier auf andere soziale und historische Voraussetzungen. Der besagte Twitteraccount bezieht sich nicht auf den Literaturbetrieb, man kann daran aber erkennen, welche Fragen sich in jedem Fall ergeben: Werden BPoC nach Augenschein gezählt oder nach Stammbaum? Bis in die wievielte Generation zählt ein Nachkomme etwa polnischer Einwanderer als BPoC? Als was gilt ein jüdischer Autor?

Das simple Zählen stößt an seine Grenze

Nun ist es in Identitätsdebatten geraten, solche Fragen nicht pauschal zu stellen, sondern es Einzelnen zu überlassen, wie sie sich verstehen, zumal wenn sie wegen bestimmter Eigenschaften von der Mehrheit ausgegrenzt werden. Solche Selbstbeschreibungen tendieren aber zur Vielschichtigkeit. Die jungen Schriftstellerinnen in Allmende sagen deshalb, "neu" sei am Feminismus, dass er sich "intersektional" verstehe: Das heißt, die Emanzipationsbewegung soll sich nicht nur für Geschlecht interessieren, sondern auch für Hautfarben, Klasse, Religionen, körperliche und seelische Gesundheit und sexuelle Orientierung - und alles, was sich dazwischen an Zusammenhängen ergibt.

Stellt sich heraus: Vielfalt ist schön, macht aber viel Arbeit. Das simple Zählen kommt da offensichtlich an seine Grenzen, und es fängt der Bereich des Erzählens an. Das Bedürfnis nach Vielfalt und Gerechtigkeit in der Literatur wird dabei auch zum inhaltlichen Kriterium: Es geht nicht nur darum, wie oft eine Position im Literaturbetrieb repräsentiert ist, sondern welche literarische Darstellung ihr gerecht wird. Es sind schon kleine Formulierungen, die Leser spüren lassen kann: Da wird eine Migrationsgeschichte, eine Lebensweise, eine körperliche Eigenschaft wie meine abschätzig oder vereindeutigend beschrieben, im Sinne einer angenommenen Mehrheit, der ich offenbar nicht angehören soll.

Der schnappatmende Kommentar der Kolumnisten folgte umgehend

In dem Zusammenhang hat sich zuletzt eine Gruppe junger Lektorinnen, Germanistinnen und Journalistinnen gefunden, die aus eigenen Erfahrungen mit Büchern und mit ihren marginalisierten Identitäten ein Beratungsangebot machen. Sie nennen es, auch nach einer amerikanischen Idee, "Sensitivity Reading": Wenn jemand, heißt es auf ihrer Website, über Themen außerhalb der eigenen Erfahrung oder Zugehörigkeit schreibt und die "Lebenswelt und das Gefühl von marginalisierten Personen in Worte fassen" will, dann bieten die Sensitivity Reader an, das Manuskript zu prüfen, "ob sich nicht unabsichtlich abwertende Beschreibungen wie Mikroaggressionen in den Text geschlichen haben".

Gar nicht mal nur mikroaggressiv kommentierten einige Feuilletons dieses Angebot sehr herablassend. Harald Martenstein, Chefkolumnist alter weißer Männlichkeit, schnappatmete, das sei das Ende der Literatur. Wenn einer wie er da die Zensoren von morgen aufmarschieren sieht, möchte man die doch schon heute kennenlernen und bittet um einen Termin. Weil es sich um keine professionelle Agentur, sondern ein auf freiwilligem Engagement aufbauendes Netzwerk handelt, bekommt man die Gesprächspartnerin, die gerade Zeit hat und deren Thema nach dem Urteil der Gruppe gerade mehr Beachtung verdient. Eine freundliche Frau um die dreißig lädt in ihre Wohnung am Stadtrand von Frankfurt am Main ein. Sie heißt Alexandra Koch, ihren IT-Job erledigt sie an dem Tag im Home-Office, später bleibt etwas Zeit für Literatur.

Sie sagt an diesem Nachmittag sehr häufig den Standardsatz aller Vorkämpfer der Diversität: "Ich kann nicht für alle sprechen." Man täte sich deshalb unheimlich schwer, ihr den Machtwillen einer Zensorin zu unterstellen. Und auch in ihrem Buchblog schreibt sie in der ersten Person, aus einer dezidiert subjektiven Perspektive. Eins hat sie darin erst nach ein paar Jahren erwähnt: "Ich selbst sitze seit dem Kindergartenalter im Rollstuhl, weil ich Glasknochen habe", steht in einer Besprechung eines Bestsellers von Jojo Moyes, dessen Held einen Unfall hat und sich am Ende lieber umbringt, als mit einer Behinderung zu leben. Koch übt daran Ideologiekritik reinsten Wassers. Sie demaskiert einen stereotypen Plot, in dem durch abwertende Phrasen wie "an den Rollstuhl gefesselt" "alles was mit der Behinderung zu tun hat, möglichst weit weggeschoben wird von allem 'Normalen'".

Ist "Sensitivy Reading" in deutschen Verlagen angekommen?

Es gebe sehr wenige Figuren mit Behinderung in der Literatur, sagt sie: "Und wenn das wenige, das viel Publikum bekommt, in diese stereotype Richtung geht, prägt es das gesellschaftliche Bild." Bücher verbannen möchte sie aber nicht, lieber den Autoren künftiger Romane bei der Recherche, bei der Entwicklung von Plots helfen und spiegeln, wie ihre Darstellungen wirken: "Wir sprechen keine Verbote aus, wir zeigen nur, was vielleicht blöd rüberkommt, welche Formulierungen viele beleidigen." Leute, die nicht selbst Diskriminierung erfahren, würden deren subtile Formen leicht übersehen, deshalb sei ein spezielles Lektorat durch Betroffene sinnvoll. Die Abwehr dagegen versteht sie nicht: "Als ob wir jemandem seinen Status wegnehmen wollten, weil wir jetzt mitdiskutieren."

Wenn man sich in deutschen Verlagen umhört, hat man nicht den Eindruck, dass demnächst Autoren zum Sensitivity Reading verdonnert würden. Es heißt dort vielmehr, die Korrektur von Misstönen gehöre ohnehin zur Verlagsarbeit, die durch die Argumente des Sensitivity Reading womöglich eine Dimension dazubekomme. In den USA ist es indessen schon etablierter. Über die Widerstände dagegen schreibt der Literaturwissenschaftler Adrian Daub: "Wenn Texte den Befindlichkeiten der Mehrheitsgesellschaft angepasst werden, heißt das Lektorat. Wenn die Befindlichkeiten von Minderheiten ins Spiel kommen, sind die Grenzen der Akzeptanz bald erreicht."

Einen entscheidenden Satz zur Dialektik von Mehrheiten und Minderheiten sagt, nur eine Straßenbahnfahrt von Alexandra Kochs Wohnung entfernt, der Leiter des Frankfurter Literaturhauses, Hauke Hückstädt: "Ich werde immer nach Zielgruppen gefragt. Aber unser Ziel war eher, möglichst wenige auszuschließen." Die Stabsstelle Inklusion der Stadt Frankfurt hatte ihn nämlich gefragt, ob ihm zu "Barrierefreiheit" etwas Inhaltliches einfallen würde: "Und obwohl wir uns mit unserem Programm an ein sehr großes, breites Publikum richten, fiel uns da auf, wie exklusiv das immer noch ist, gegenüber den etwa 17 Millionen Menschen in Deutschland, die nicht gut lesen können." Also sekundäre Analphabeten oder Menschen, die gerade erst Deutsch lernen, die Konzentrationsschwächen oder geistige Behinderungen haben oder nach einem Schlaganfall erst wieder anfangen zu lesen. Für die gab es bisher zwar Bücher, die in einfache Sprache "übersetzt" wurden: "Eines Tages wacht Gregor Samsa auf. Er will aufstehen und zur Arbeit gehen." Solche Kanon-Übersetzungen seien unverzichtbar, sagt Hückstädt. Aber Kafka ist das nicht. Hückstädt selbst bat Schriftsteller um Originale in einfacher Sprache. Die Geschichten waren zuerst für eine Lesereihe im Frankfurter Literaturhaus gedacht, jetzt gibt es sie in einem Sammelband: Erzählungen von 13 Autorinnen und Autoren wie Arno Geiger, Judith Hermann und Olga Grjasnowa.

Hückstädt nennt das ein "sanftes Dogma"

Hückstädt ist zwar keiner, der leugnen würde, dass die schöne Literatur ein Elitenprojekt ist. Aber als Literaturveranstalter macht er sich Gedanken, wie man mehr Menschen Zugang dazu verschaffen kann. Die Literatur in einfacher Sprache verteidigt er deshalb gegen den Verdacht, man lasse sich damit herab. Er beschreibt sie eher als formales Experiment, das für alle interessant ist, vergleicht sie mit der Literatur des Oulipo: Texten, die aus strengen Regeln erst entstehen.

Die Regeln sind (auch in einfacher Sprache) im Nachwort seines Bandes genannt. Unter anderem: Sprachbilder werden erklärt, einfache Sätze in übersichtliche Zeilenumbrüche gegliedert. "Wir vermeiden Zeitsprünge, Wir erzählen nur aus einer Perspektive." Das Ergebnis dieses "sanften Dogmas" sind auf ganz unterschiedliche Art nüchterne, verspielte, beziehungsreiche oder allgemeingültige Erzählungen. Darunter zum Beispiel zwei Geschichten von Kristof Magnusson über berühmte Kriminalfälle der BRD: Wenn man darin Uwe Barschel und Rosemarie Nitribitt erkennt, macht es Spaß, wenn nicht, sind die Erzählungen als solche spannend genug. Eine Geschichte von Julia Schoch fängt so an: "Es ist ganz einfach: Ich verlasse dich." Und wer wollte sich festlegen, ob das nicht doch eher ein schwerer Satz ist.

"Türen öffnen" sollen diese Texte, sagt Hauke Hückstädt: Türen zu den Werken von Gegenwartsschriftstellern für Leute, denen der Zugang nicht von Hause aus gegeben ist. Und Türen zum ästhetischen Potenzial einer Sprache, die besondere Rücksichten nimmt. Häufig wird ja von Kunst und Literatur geredet, als seien sie am besten, wenn sie rücksichtslos und respektlos sind. Dieser Sammelband ist der Gegenbeweis. Und sollte beim Rücksichtnehmen etwas vom Distinktionsgebaren "der Literatur", das heißt ihrem Milieu, auf der Strecke bleiben, kann das gar nicht schaden.

( LieS! Das Buch. Literatur in Einfacher Sprache. Piper, München 2020. 288 Seiten, 18 Euro)

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Quelle:
SZ vom 10.03.2020
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