Süddeutsche Zeitung

Friedrich Hölderlin heute:Auf den Saiten des Herzens

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"Hölderlin ist eine dem deutschen verwandte Sprache": Wie gegenwärtig ist Friedrich Hölderlin den Deutschen an seinem 250. Geburtstag? Ein Streifzug durch Gedenkorte, geschlossene Ausstellungen und jüngst erschienene Biografien und Bücher.

Von Alex Rühle

Es gab da in München Ende der achtziger Jahre diesen Kommilitonen, der tagein, tagaus, vor den späten Elegien Hölderlins saß. Wichtig ist dabei, dass er die Ausgaben von Sattler vor sich aufgeschlagen hatte. Seinerzeit tobte ein mit fast schon religiöser Inbrunst ausgetragener Krieg über die richtige Les- und Publikationsart der Hölderlinschen Texte. Dietrich Eberhard Sattler, ein Autodidakt, hatte 1972 begonnen, die Werke jeweils in all ihren Varianten und Umschriften zu veröffentlichen. Keine Vereindeutigung, keine philologische Gewalt, stattdessen der wild wuchernde Urwald der immer neuen Versuche, Skizzen, Anläufe, so das Sattlersche Credo. Möge sich daraus jeder seinen eigenen Hölderlin zusammensetzen!

Dieser Kommilitone, ein Langzeitstudent, saß fremd unter uns Derridadilettanten und Schlaubischlümpfen. Er wirkte wie ein fernes Echo einer anderen Zeit, ihm war Hölderlin noch so etwas wie ein Schutzheiliger, der ihm geholfen hatte, in der bleiernen Zeit nach dem Radikalenerlass zu überwintern. Ging es um irgendein Beziehungskuddelmuddel, konnte es sein, dass er plötzlich den "Hyperion" zitierte: "Ja! eine Sonne ist der Mensch, allsehend, allverklärend, wenn er liebt, und liebt er nicht, so ist er eine dunkle Wohnung, wo ein rauchend Lämpchen brennt." Sagte einer von uns etwas Harmloses über den ja doch angenehm warmen Frühling, kam von ihm etwas wie: "In lieblicher Bläue blühet / mit dem metallenen Dache der Kirchthurm. Den umschwebet / Geschrei der Schwalben, den umgiebt die rührendste Bläue." Dann verschwand er wieder im Irrgarten der faksimilierten Handschriften. Er wirkte dabei nicht wahnsinnig, sondern ganz und gar durchdrungen und erfüllt. Er war nur tief verzweifelt, weil er für seine eigene Arbeit nie die eine, die richtige Lesart fand.

Die Werke dienen vor allem als "Eiger-Nordwand für Extremphilologen"

Heute wäre man froh, wenn es um Lesarten ginge. Hölderlin ist nahezu verschwunden. Zu sperrig, heißt es fast reflexhaft. Zu komplex. Der Germanist Kurt Oesterle schimpft in seiner soeben erschienenen Biografie "Wir & Hölderlin" ( Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2020. 177 S., 22 Euro), sein Werke diene in der Germanistik nur noch als "Eiger-Nordwand für Extremphilologen". Wie groß die Angst vor Hölderlins Texten zu sein scheint, wird ersichtlich in all den Ausstellungen, die jetzt eigentlich beginnen sollten. Die Gedenkorte, die sich eilends herausgeputzt haben, versuchen alles, um Hölderlins Texte spür- und nahbar zu machen. In seinem Geburtshaus in Lauffen will man "den Menschen Hölderlin" zeigen, den treuen Freund, den tragischen Liebhaber, den unglücklichen Sohn - Lebensaspekte plus jeweils ein paar Zeilen dazu. Im frisch renovierten Tübinger Turm, in dem er nach seinem Zusammenbruch 36 Jahre lebte, in der Obhut der so beeindruckend freundlichen Schreinerfamilie Zimmer, kann man mit Silben und Versen experimentieren, und im angrenzenden Garten gibt es, eine sogenannte Gedichtlaufstrecke, weil er ja selbst stets im Gehen den Rhythmus seiner Gedichte entwickelt haben soll. Man kriegt einen Audioguide, auf dem ein Schauspieler das Gedicht "Sommer" in drei Geschwindigkeiten rezitiert, und wird gebeten, selbst in drei Geschwindigkeiten im Gras herumzurennen.

Zuletzt noch das Literaturarchiv Marbach (DLM), wo an diesem Freitag die Ausstellung "Hölderlin, Celan und die Poesie" hätte eröffnen sollen und in der ebenfalls ein so großes Augenmerk auf die Gemachtheit der Gedichte gelegt wird - "Hölderlin mit den Fingern lesen" heißt eine der Stationen -, dass man den Eindruck hat, das ganze Land wird zur Hölderlinwerkstatt. Die nun wegen Corona geschlossen ist - was auch wieder passt zu diesem biografischen Tragiker, da hat man einmal Geburtstag, da wird endlich versucht, mit 300 Veranstaltungen den großen Unbekannten der deutschen Klassik unters Volk zu bringen (online unter hoelderlin2020.de), und dann kommt die Seuche.

Was aber bleibet, stiften die Bücher. Vielleicht kann man solch einen Gedenktext jetzt, da wir alle in Klausur gehen statt nach Tübingen, Lauffen oder auch ins Kloster Maulbronn zu fahren, wo er ins kerkerähnliche Internat ging und wo eine raffinierte Dauerausstellung frühe Jahre, frühes Leid und erste programmatische Lyrik zeigt, vielleicht kann man seine Bedeutung stattdessen über einige der Biografien wenigstens anskizzieren, die anlässlich des großen Geburtstags aktuell erscheinen. Rüdiger Safranskis große Biografie wird dabei nur deshalb außen vorgelassen, weil sie bereits im Herbst allerorten hymnisch gefeiert wurde.

Er war überzeugt davon, zur einfachen Bevölkerung sprechen zu können

Der schon erwähnte Kurt Oesterle verzahnt kunstvoll Leben und Werk, wandert permanent von den Texten in die Biografie und zurück: Hölderlin, der bereits im Alter von neun Jahren Vater und Stiefvater verloren hat und in dessen Werk dann eine "maskuline Überlast" auffällt, alles voller Heroen, Halbgötter, "Männerjubel", "Männerkraft". Der mit seinen Tübinger Kommilitonen Hegel und Schelling um 1796 auf zwei Seiten Geistesgeschichte schreibt, das "Älteste Systemprogramm des Idealismus", in dem sie fordern, dass Philosophie zu Ethik und konkreter Handlungsanleitung werde; der Staat abgeschafft gehört und die Poesie die Menschen zu freien Wesen machen soll, ja die Dichtung zur menschheitsformenden, ja -rettenden Kraft wird. Der so überzeugt davon war, zur einfachen Bevölkerung sprechen zu können, dass er erwog, auf Bücher zu verzichten und stattdessen seine komplexen Gedichte auf den Marktplätzen mittels Flugblättern zu verteilen. Schöne Vorstellung, die Mägde am Markttag, in der einen Hand den Korb mit Einkäufen, in der anderen "Mnemosyne": "ferne von dir spielen zerreißend bald / Auf den Saiten des Herzens / Alle Geister des Todes mir."

Oesterle zeigt, dass Hölderlin just in dem Moment seine eigentliche Odenform fand, als ihm "die Weltanschauung des Idealismus zusammengebrochen" und die Hoffnung auf politische Befreiung ebenfalls abhanden gekommen war. Was dann dazu führte, dass er die ja so strenge Oden-Form radikal modernisierte, raus mit allem blumig Wohligen der Empfindsamkeit, stattdessen Stakkato, Zeilenbrüche, Zerrissenes, Lebensnot, eine einzige intensive Suchbewegung, die oft an kein Ziel mehr kommt. Dazu passend weist Oesterle darauf hin, was für ein wilder, ruheloser Wanderer Hölderlin war, der oft 50 Kilometer am Tag - auch quer durchs Gebirge - lief und in dessen Texten immerzu in eine "vielversprechende Ferne", "fernende Erinnerung" oder "heilige Fremde" gezogen wird. Wobei das Heilige, so Oesterle, Synonym für das Unbekannte, Unverständliche ist, "das wir unbedingt achten sollten. Wie man überhaupt die machtvollste Tendenz seines Werks die Wiederverheiligung des Lebens nennen könnte." Schon wegen Neologismen wie dieser "Wiederverheiligung" ist diese Biografie ein Lesegenuss.

Seltsam an Hölderlins Nachleben ist ja, dass er zunächst nur untergründig weiterwirkte, von Einzelnen gelesen, um dann im zwanzigsten Jahrhundert zum wirkmächtigsten Autor der deutschen Literatur zu avancieren. Die Hälfte des Katalogs zur Marbacher Ausstellung (den man trotz Verschiebung der Eröffnung bereits im digitalen Shop des Deutschen Literaturarchivs bestellen kann) nehmen literarische Reminiszenzen, Zitate, Liebeserklärungen ein. Es ist faszinierend bis rätselhaft, dass sich so weltanschaulich unterschiedliche Autoren wie Döblin, George, Carl Schmitt und Celan auf ihn berufen. Oesterle sagt denn auch, die Geschichte der Hölderlin-Rezeption ließe sich nacherzählen "wie ein Abenteuerroman".

Den erzählt in gewisser Weise Karl-Heinz Ott in "Hölderlins Geister" ( Hanser, München 2019. 240 S., 22 Euro). So gekonnt wie witzig skizziert er das "weltanschauliche Gegrabsche", mit dem sich Heidegger, Lukács, Peter Weiss bei ihm bedienen, indem sie vieldeutige Textpassagen in ihr eigenes Weltbildpuzzle pressen. Ott zeigt zum einen, dass Hölderlin sich gerade durch seine widersprüchlichen Geschichtsmythen und all das, was Celan "die kompakten Stellen", Adorno den Rätselcharakter der Kunst nennt, dazu eignet, immer neu, immer anders gelesen zu werden. Vor allem aber verteidigt er Hölderlin gegen all die faschistischen, marxistischen, antipsychiatrischen und sonstigen Vereinnahmungsversuche, allein durch die Frage: "Warum hat Hölderlin eigentlich Gedichte geschrieben, wenn seine Botschaft sich auch in klarer Prosa fassen lässt?"

Oskar Pastior schrieb mal: "Hölderlin ist eine dem Deutschen verwandte Sprache." Wer es jetzt mal probieren will mit dieser so einmalig schönen, dunklen, wilden, "mutatmenden" Sprache, aber keine Lust hat auf den Kauf eines Gesamtwerks: Navid Kermani hat eine Anthologie herausgegeben, in der von den frühen Gedichten über biografisch erhellende Briefe, Hyperion-Ausschnitte und Teile des Dramas "Empedokles" bis zu den späten Oden und kleinen Gedichten aus den Jahren der Umnachtung alles versammelt ist ( Friedrich Hölderlin: Bald sind wir aber Gesang. C.H. Beck, München 2020. 256 S., 20 Euro).

Was diese zweite Hälfte seines Lebens, die 36 Jahre im Tübinger Turm und die Frage angeht, welche psychiatrische Diagnose man Hölderlin ausstellen müsste, sei nur sein Pflegevater, der so überaus noble Schreinermeister Zimmer, zitiert: "Hölderlin hat keine fixe Idee, er mag seine Fantasie auf Kosten des Verstandes bereichert haben." Hölderlin starb am 7. Juni 1843. Weder Schelling noch sonst einer seiner alten Freunde kam zur Beerdigung. Im Tübinger Bestattungsbuch wurde er als "Hölderlin Studios" eingetragen.

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SZ vom 20.03.2020
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