Süddeutsche Zeitung

"Fielding Gray":Kalte Blicke, gebildetes Gefühl

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Eine Entdeckung aus dem 20. Jahrhundert: Simon Ravens Romanzyklus "Almosen fürs Vergessen" startet glanzvoll. Am Ende stellt der brillante Held verblüfft fest, dass er gerade sein erstes Gespräch mit einem Menschen der Unterschicht geführt hat.

Von Gustav Seibt

England im Frühsommer 1945: Man hat überlebt, man hat gesiegt, nur im japanischen Krieg wird noch gekämpft. Eine Schule gedenkt ihrer Toten, der Prediger mahnt schon zur Milde gegenüber den besiegten Deutschen. Die Liste der Gefallenen und Verstorbenen ist individualisiert genug, um Erbarmen für das hingemähte junge Leben zu erwecken. Doch die Trauer vermengt sich sogleich mit der Erbarmungslosigkeit sozialer Beobachtung: Die Toten waren als Lebende Teil einer Klassengesellschaft, sie waren keineswegs gleichermaßen distinguiert, heroisch, vielversprechend. Der kalte Blick, der darauf fällt, gehört dem Ich-Erzähler, dem brillanten und attraktiven Schüler Fielding Gray. Er hat noch ein Jahr vor sich, aber ihm winkt schon ein Stipendium in Cambridge, für Altphilologie.

Er sieht ein erfreuliches Leben voller Erfolge und Genuss vor sich: "Wenn ich durch glückliche Fügung für die annehmlichen Innenhöfe von Lancaster bestimmt war und nicht für die in Ruinen liegenden Straßenzüge von Berlin, dann sah ich keinen Sinn darin, mich schlecht zu fühlen." Ein Buch, das so sieghaft beginnt, kann nur in einer Desillusionierung enden. Das tut der Roman um Fielding Gray - die Namensgleichheit mit Oscar Wildes Dorian Gray ist beabsichtigt - auf eine bis in die letzten Seiten überraschende Weise. Wobei sich die Überraschungen, die natürlich kein loyaler Rezensent verraten darf, gar nicht nur auf der Ebene der Handlung, des Plots, ereignen, sondern in einem Blickwechsel, der ähnlich schockhaft eintritt wie am Schluss von Flauberts "Éducation sentimentale".

"Fielding Gray" ist Teil eines zehnbändigen Romanzyklus, den sein Autor Simon Raven unter den bezwingenden Titel "Almosen fürs Vergessen" gestellt hat und der zwischen 1964 bis 1976 erschien. Die ausgezeichnete Übersetzung, die der Elfenbein-Verlag jetzt gestartet hat, beginnt mit dem chronologisch frühesten Abschnitt des Zyklus, nicht mit dem zuerst erschienenen Band. Diese Entscheidung ist klug, weil der Verfasser sich in dem Buch auch selbst vorstellt.

Der stolze Gray weiß, was er werden will, kann aber nicht sagen, worum es ihm geht

Simon Raven, der von 1927 bis 2001 lebte, muss viele Züge seines verwegenen Helden getragen haben; wir lesen von provozierender Homosexualität, von Wettschulden, von einem Altphilologie-Studium, vom Dienst in der Armee, bevor eine Schriftstellerkarriere zu Ruhm und Lebensunterhalt führte. Der Verlag kündigt den Zyklus an als Parallelaktion zu Anthony Powells "Ein Tanz zur Musik der Zeit", seinen übersetzerischen Großerfolg der letzten Jahre: gesteigerte Britishness im Durchgang durchs späte zwanzigste Jahrhundert. Ja! Der Auftakt verspricht viel, vielleicht nicht ganz Powells mehrfach lasiertes Hintergrundglühen, aber doch ziemlich unendlichen Spaß.

Denn der stolze Gray, der zwar weiß, was er werden will, aber doch nicht sagen kann, worum es ihm geht ("Das kann man noch nicht wissen"), muss sich durch einen Dschungel von Liebeswirren, College- und Familienintrigen kämpfen, um am Ende - doch das sei hier verschwiegen. Gesellschaftlich gehört er der oberen Mittelschicht an, die weder mit Griechisch und Latein noch mit Homosexualität, Grays zweiter Leidenschaft, viel anfangen kann. Campus-Liberalität winkt nur von Ferne, die Klassenlage bleibt puritanisch-verlogen. Erpressung wegen sexueller Devianz ist ein Hauptmotor des Geschehens.

Fieldings Eltern, deren autoritäre Engstirnigkeit erstickend gezeichnet wird, wollen den Sohn in einer indischen Teefirma unterbringen (noch ist Indien nicht unabhängig). Warum eigentlich, wenn akademischer Erfolg doch fast sicher erscheint? Sie ertragen es nicht, dass jemand Geld mit einem Beruf verdient, der ihn erfüllt: "Ihre Empörung rührt von einem aufrichtigen moralischen Empfinden her: Sie gleicht dem Ressentiment, das eine Frau in der Ödnis ihrer Ehe angesichts des Erfolgs einer berühmten Kurtisane empfindet."

Doch nicht nur spitzzüngig ist der voltenreiche Roman, sondern voller gebildeten Gefühls. Fieldings erste Liebe ist ein Mitschüler, den er so schön findet, dass er sich ihn wie in der "Ode auf eine griechischen Urne" von John Keats verewigt wünscht. Über diese Geschichte, den Glutkern des Romans, der ihn über die Kälte der Beobachtung, den Witz, die Demontage des Ich-Erzählers hinausführt, darf man vorwegnehmend nicht sprechen. Gray ist am Ende ein anderer, verblüfft stellt er in einem Moment sogar fest, dass er gerade sein erstes Gespräch mit einem Menschen der Unterschicht geführt hat - eine Erfahrung, ähnlich buchenswert wie der erste Sex. Die Übersetzerin und der Verlag mögen nun die ausstehenden Bände rasch liefern, damit wir die Spur des großartigen Schriftstellers Simon Raven nicht mehr verlieren.

Simon Raven : Fielding Gray (Almosen fürs Vergessen). Aus dem Englischen von Sabina Franke. Elfenbein Verlag, Berlin 2020. 262 Seiten, 22 Euro.

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SZ vom 07.07.2020
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