Süddeutsche Zeitung

Festival:Klänge gegen Klischees

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Zum vierten Mal geht in den Kammerspielen die "Alien Disko" über die Bühne, eine Indie-Pop-Plattform für musikalische Regelbrecher aus aller Welt. Als Vorspiel gibt es eine Warm-up-Party namens "Erdäpfelkaassaloon"

Von Jürgen Moises

Dreizehn Japaner vom Flughafen abzuholen. Auch das gehört für Markus Acher als Veranstalter zur "Alien Disko". Oder einer Musikerin aus Neuseeland ein paar Tage vorher eine Gitarre auszuleihen. Denn mit 18 Konzerten, einer Warm-up-Party und zwei Aftershow-Jamsessions gehört die von der Band The Notwist kuratierte "Alien Disko" in den Kammerspielen zwar zu den großen Festivals in München. Aber auch bei der vierten Ausgabe geht es immer noch sehr familiär zu. Und genau so soll es laut Notwist-Sänger Acher auch sein. Das beste Beispiel dafür ist der an diesem Donnerstag und damit einen Tag vor dem regulären Festival stattfindende "Erdäpfelkaassaloon" im Import Export, der zu Ehren der Blaskapelle Zayaendo aus Tokio stattfindet: mit Livemusik, Schnaps, Bier und dem vorwiegend aus zerstampften Kartoffeln bestehenden Erdäpfelkäse.

Den "Erdäpfelkaassaloon", den gab es noch vor ein paar Jahren als Veranstaltungsreihe. Für die "Alien Disko" wurde er nun reaktiviert, damit hiesige Musiker und Bands wie Maxi Pongratz, Sachiko Hara, Joasihno oder Schnitt der vom Indiepop-Duo The Tenniscoats nach Vorbild der Landlergschwister und der Hochzeitskapelle gegründeten Kapelle Zayaendo einen musikalischen Empfang bereiten können. Als die Hochzeitskapelle, in der Markus Acher Schlagzeug spielt, in Tokio zu Gast war, gab es dort zwei Willkommensabende. "Und wir machen das jetzt hier." Bei der "Alien Disko" werden Zayaendo am Samstag auftreten und zuvor, wie im vergangenen Jahr, bei einer Parade durch die Stadt ziehen.

Mit dem Psychedelic-Folk-Duo Eddie Marcon, das seinen im vergangenen Jahr ausgefallenen Auftritt nachholt, der Elektronik-Musikerin Tentenko und den Soundkünstlern Asuna und Ichi sind weitere japanische Musiker zu Gast, wodurch es erneut einen kleinen Japan-Schwerpunkt gibt. Ein weiteres Zentrum bilden Musiker, die mit traditionellen Regeln des Jazz oder, wie Markus Acher beim Gespräch sagt, mit afroamerikanischen Klischees brechen. Das bekannteste Beispiel sind sicherlich die seit Jahren in der Jazz-Szene hoch gehandelten Sons Of Kemet um den britischen Saxofonisten Shabaka Hutchings. Aber auch der amerikanische Experimentalmusiker und Komponist Tyondai Braxton, der in der Artrock-Band Battles gespielt und mit Philip Glass zusammengearbeitet hat, ist kein Unbekannter.

Der afroamerikanische Trompeter Ben Lamar Gay hat bereits 2018 mit einer eindringlichen Mischung aus Jazz, Soul und Afropop begeistert. Und das Frauen-Trio Big Joanie kommt aus der Londoner Afro-Punk-Szene. Dass es auch in München tolle Musiker gibt, das soll die "Alien Disko" ebenfalls aufzeigen. Und davon gibt es diesmal tatsächlich eine Menge, weil nicht nur Maxi Pongratz von Kofelgschroa mit einer etwa zehnköpfigen Verstärkung auftritt. Auch das Chanson-Projekt von Salewski führt eine Armada an Münchner Indiemusikern zusammen. Und der "singende Kulturanthropologe" Fehler Kuti alias Julian Warner hat unter anderen drei Bläser und einen kleinen Chor dabei, mit denen er sein Anfang Dezember erschienenes Debütalbum "Schland Is The Place For Me" live vorstellt.

Fehler Kuti, Dramaturg, Veranstalter, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Göttingen und seit Jahren mit dem Münchner Elektronik-Duo 1115 aktiv, versucht sich in "Schland Is The Place For Me" an einer musikalischen Gegenerzählung zum Klischeebild Münchens - indem er verlorene oder verdrängte Orte wie die Disco X-Zess, das Ankerzentrum am Moosfeld oder das Geflüchteten-Camp am Rindermarkt ins Zentrum rückt oder seine Erfahrungen mit Rassismus in Bayern thematisiert. Das macht er in Form von zehn minimalistischen, zusammen mit Markus Acher und Tobias Siegert entwickelten Songs, die irgendwo zwischen Krautrock, Folk und Sun Ra pendeln. Und die nicht nur die taz oder den Deutschlandfunk neugierig gemacht haben, sondern auch die Organisatoren des Elbjazz-Festivals in Hamburg, wo der Musiker im Juni 2020 auftritt.

Der Hintergrund: Markus und Micha Acher von The Notwist wurden für "Elbjazz 2020" als "Artists in Residence" eingeladen. Was bedeutet, dass sie mit vier musikalischen Projekten am 5. und 6. Juni zwei Abende gestalten dürfen. Dazu gehören neben Fehler Kuti das Jazz-Trio Acher Sommer Enders, die Notwist-Tenniscoats-Kollaboration Spirit Fest und The Notwist selbst, die bei der "Alien Disko" diesmal nur zwei kleine Auftritte als "Guerilla-Pocketband" haben. Aber die "Disko" soll eben vor allem ein Podium für andere, befreundete oder verehrte Musiker sein, eines, dessen Zukunft durch den kommenden Intendantenwechsel an den Kammerspielen in Frage steht. Denn der kritisierte Matthias Lilienthal war ein klarer "Alien Disko"-Verfechter. Wie seine Nachfolgerin Barbara Mundel dazu steht, das muss man sehen.

Erdäpfelkaassaloon , Do., 12. Dez., Import Export, Schwere-Reiter-Straße 2 (Eintritt auf Spendenbasis); Alien Disko #4 , Fr./Sa., 13./14. Dez., Kammerspiele, Maximilianstraße 26-28

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Quelle:
SZ vom 12.12.2019
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