Süddeutsche Zeitung

Eva Sichelschmidt:Im Westen geht die Sonne unter

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Plötzlich ist die Grenze offen: Eva Sichelschmidt setzt ihre schnoddrig traurige Familiengeschichte fort mit dem Roman "Transitmaus".

Von Hilmar Klute

Gegen Ende von Eva Sichelschmidts Roman, als die Familienkatastrophe komplett und ihre Heimatlosigkeit damit endgültig besiegelt ist, liest die Erzählerin dieser Geschichte fünf Wörter auf einem Zeitungsaufsteller: "Die Mauer ist gefallen." Und sie vermutet: "Es muss sich um eine Metapher handeln."

Es ist ja ein beliebter Topos in Geschichten über die späten Achtziger, wenn ein Romanheld gar nicht oder nur flüchtig mitbekommt, dass die Grenze zur DDR plötzlich offen ist. Aber Eva Sichelschmidts "Transitmaus", so wird die Ich-Erzählerin von ihren Westberliner Freunden genannt, hat dermaßen viel an privatem Kummer zu schlucken, bis hin zur beklemmenden Tragödie des Heimatverlustes, dass Weltereignisse eher gering ins Gewicht fallen.

Auf den Leichtsinn des Alltags drückt die Schwere der Herkunft

Eva Sichelschmidt hat die Geschichte ihrer Familie bereits in dem umfangreichen, viel gelobten Roman "Bis einer weint" zu erzählen begonnen, eine wüste, schicksalsschwere Buddenbrooksiade aus dem grünen Rand des Ruhrgebiets. Der Erzählerin, Tochter eines einst erfolgreichen Herstellers landwirtschaftlicher Geräte, gelingt es in "Transitmaus", das niedergehende Eltern- , besser: Vaterhaus, denn die Mutter ist früh gestorben, zu verlassen. Eine Freundin jobbt in West-Berlin, und mit dem Golf und wenig Geld geht es über die Tansitstrecke auf die ummauerte Insel.

Die Schikanen durch die graumausigen Volkspolizisten gehören zur Reise- und Erinnerungskultur jedes Westdeutschen, der damals nach Kreuzberg oder Schöneberg fuhr. Eva Sichelschmidt erzählt diese Aufbruch- und Fluchtgeschichte aus der Sicht jenes jungen, schon ziemlich gebeutelten Mädchens. Der Vater, ein deprimierter, alternder Mann, hat den obskuren "Hausfreund" Uwe in die Familie geholt, deren Haushalt nur von der soliden Wirtschafterin Frau Schmidt zusammengehalten wird.

Das berufliche Rüstzeug hatte sich die Tochter noch bei der knorrigen Schneiderin Eleftheria Prodromidis geholt; für die Schluffis in Berlin wird sie später Anzüge aus Jeansstoff nähen, eine Innovation! Der Kontakt zum Vater wird brüchig, sobald die Tochter im Soziotop der Westberliner Lumpenbohème heimisch wird. Ihr Freund wird Falk, ein Typ, der irgendwie krumme Geschäfte macht. Aber was ist schon krumm und was ist gerade im Berlin jener Jahre, als man für den täglichen Kampf um Liebe, Weißwein und Tüten vielleicht hin und wieder einen unverbindlichen Job benötigte?

Mit dem prekären Hedonismus und dem Laissez-faire ihrer neuen Freunde kann sich die Erzählerin nur schwer arrangieren, zu sorglos und indifferent muss ihr das Leben vorkommen, zu kaltschnäuzig die esoterischen Beziehungsphilosophien des schönen Claudius, in den sich die junge Frau verliebt, um irgendwann schnöde von ihm verlassen zu werden. Denn auf den Leichtsinn des Alltags drückt die Schwere der Herkunft, das zerstörte Vertrauen, die Trauer um das zusehends verfallende Haus im Ruhrgebiet, das jetzt von einer schreienden Haushälterin mit unbestimmbarem Namen regiert wird.

Dazu die Zurückweisung ihrer Liebe durch den Vater, der anfangs noch ihre Schulden bezahlt, dann aber in Suff und Demenz verfällt, bevor er seine letzten Stunden in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie verbringt, die man damals noch volkstümlich Irrenanstalt nannte: "Zu dumm nur, dass man sich immer mitnahm, wohin man auch ging." Die Hypothek der irgendwie trostlosen Jugend am Stadtrand, eine unbestimmbare Erinnerung an einen Zungenkuss vom Vater (war da was oder trickst das Gedächtnis?), der allmähliche Niedergang des Familienbetriebs - all dies temperiert den Erzählton in Eva Sichelschmidts Erzählung, der zwar hübsch schnodderig bleibt, zugleich aber in diese rasante Reise durch die Saturnalien der alten Bundesrepublik einen dunklen Faden webt.

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