Süddeutsche Zeitung

Europäische Literatur:Halt's Maul, Leiche

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Es gibt keine Erinnerung ohne Interesse und keine Moral ohne falsche Gewissheiten: Der große albanische Autor Ismail Kadare erzählt in seinem Roman "Die Verbannte" von den letzten Jahren der Herrschaft Enver Hoxhas.

Von Thomas Steinfeld

Nicht von der Liebe handelt die Geschichte, in der Orpheus in die Unterwelt zieht, um Eurydike ins Leben zurückzuholen. Sie handelt vielmehr vom Tod. Die Liebe zwischen den Gatten lässt nur den Fall entstehen, anhand dessen erkundet wird, wie endlich das Leben und wie unwiderruflich der Tod tatsächlich sei. Schwer zu ertragen scheint den Griechen dieser Gedanke zu sein, so quälend, dass sie jeden ihrer großen Helden ins Reich der Schatten schicken: Theseus, Herakles und Odysseus. Lebendige Menschen sind diese drei Heroen. Sie statten dem Hades lediglich einen Besuch ab. Eurydike hingegen ist gestorben. Sie muss aus der Unterwelt herausgeholt werden. Und als Orpheus an dieser Aufgabe scheitert, aus eigenem Verschulden, bleibt er allein auf der Erde zurück, sitzt auf einem Stein und singt traurige Lieder, so dass er bald einem Toten unter den Lebenden gleicht.

Dass der im Original 2009 erschienene Roman "Die Verbannte" des albanischen Schriftstellers Ismail Kadare, eine Variation auf die Geschichte von Orpheus und Eurydike in die späten Jahre des Diktators Enver Hoxha sein muss, bemerkt auch ein aufmerksamer Leser vermutlich erst gegen Ende dieses Werkes. Dass dieser Roman von einer Wanderung durch eine Art Unterwelt erzählt, ist hingegen von vornherein offenbar. Der Held, ein erfolgreicher Dramatiker mit Namen Rudian Stefa, wird zu einem Gespräch ins Haus des Parteikomitees geladen. Den Grund kennt er nicht, aber er befürchtet Schlimmes. Vielleicht hat er die Regeln für die Herstellung von Theaterstücken im sozialistischen Realismus verletzt, weil er im zweiten Akt seines jüngsten Werkes einen Geist auftreten ließ. Vielleicht wurde er von einer Geliebten denunziert, nachdem er ihren Kopf im Streit gegen ein Bücherregal stieß. So beunruhigt ist er, dass er redet und redet, während die ihn verhörenden Genossen mehr oder minder stumm bleiben.

Rudian Stefa ist kein angenehmer Mensch und vermutlich ein schlechter, dafür aber anmaßender Schriftsteller. Völlig auf sich selbst bezogen, scheint er den größten Teil seiner Tage damit zu verbringen, sich auszudenken, was andere Menschen (und vor allem die Ermittler des kommunistischen Staates) über ihn denken, wie sie auf ihn reagieren, wie er damit umzugehen habe, wenn sich dieser oder jener Verdacht bestätigte - und dann kommt er zu dem Schluss: "Wir leben in verschiedenen Welten".

Als für alle Beteiligten real und vom Zwang zur Interpretation befreit erscheinen nicht viele Dinge in diesem Buch: der vietnamesische Kaffee im Hotel Dajit, mitsamt seinen Spitzeln und Wanzen, die Schaukästen vor dem Theater, in dem keine Plakate für Rudian Stefas Stücke mehr hängen, die herausfallenden Bücher in dem Regal, gegen das er den Kopf seiner Geliebten gestoßen hatte. Diese heißt "Migena" (ein Anagramm für "Enigma"). Sie kommt und geht, von unklaren, aber irgendwie komplizenhaften Interessen getrieben, und bringt die Geschichte dadurch in Gang, dass sie ein Buch für eine Freundin namens "Linda B." signieren lässt.

Ein Wanderer in einem Totenreich ist dieser Rudian Stefa, und so, wie er als ein Schemen durch das Buch geht, dessen Konturen durch einen schäbigen kleinen Materialismus, vor allem aber durch die Logik des Verdachts zusammengehalten werden, so scheint es auch dem Land und seinem Führer Enver Hoxha zu gehen.

Es gibt keine Erinnerung ohne Interesse und keine Moral ohne falsche Gewissheiten

Dieser tritt am Ende des kleinen Romans auf, als kranker Mann, der seine wässrigen Augen auf die junge Braut eines seiner Funktionäre geworfen hat. Die Unterwelt, so scheint es, hat alle Wirklichkeit in sich aufgenommen. Sie besteht fort, als der Führer längst gestorben ist und seine Statue auf dem Skanderbeg-Platz in Tirana niedergerissen wird: "Jetzt befand sich der Kopf des Denkmals direkt unter seinem Fenster. Im Schädel klaffte ein Riss, dahinter gähnend dunkle Leere. Verschwinde, erniedrigtes Abbild, murmelte er vor sich hin. Das Geheul der Menge wogte herauf. Im rechten Auge der Statue, dunkel, übergroß und unnatürlich, schienen Tränen zu stehen."

Ein Orpheus ist dieser Dramatiker, ein Hades das ganze Land und insbesondere die Kupferminen, in denen Rudian Stefas jüngstes Stück spielen soll, die aber wiederum nur eine Metapher des Unglücks bilden für die versiegende (oder nie vorhanden gewesene) Schöpferkraft des Schriftstellers. Doch wenn sich der Orpheus der griechischen Mythologie nur einmal nach seiner hinter ihm gehenden Gattin umschaut und sie damit endgültig in die Unterwelt befördert, so ist dieser Orpheus eine Figur, die sich unablässig umblickt, nach allen Seiten, und der sich deswegen alles und jedes in Schatten verwandelt.

Das Ende des kommunistischen Staates klärt diese Verhältnisse nicht, im Gegenteil. Zwar scheint dann deutlich zu sein, wer "Linda B." war: eben die Verbannte, die der deutschen Übersetzung des Buches den Titel liefert, einer von Tausenden missliebigen Menschen, die das Regime an entlegene Orte hatte deportieren lassen, oft mit den Familien. Aber auch die Verbannte ist nur ein Schemen, eine durch die Neugier des Schriftstellers lebendig gewordene Erinnerung, für deren Verlässlichkeit es keine Gewähr gibt, auch wenn sie, mit großem Nachdruck, auf ihrer Wahrhaftigkeit insistiert.

Dieser Roman ist ein kleines, bitteres Buch. Aber es wiegt gedanklich schwer, und zwar auch, weil es sich fernhält von den Idealismen der Vergangenheitsbewältigung. Es gibt keine Erinnerung ohne Interesse, lehrt dieses Werk, und es gibt keine Moral ohne falsche Gewissheiten. "Halt's Maul, Leiche" wird dem Geist zugerufen, den Rudian Stefa in seinem miserablen Drama wider die Regeln des sozialistischen Theaters auftreten lässt. Der Satz könnte als Motto über dem Buch stehen. Denn selbstverständlich reden die Leichen, dem antiken Mythos von den stummen Geistern zum Trotz. Sie reden sogar in einem fort. Und will man sie nicht reden hören, aus dem elementaren Grund, dass man wissen möchte, wie es sich mit dem Tod lebt?

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SZ vom 26.08.2017
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