Süddeutsche Zeitung

Ernst-Wilhelm Händler: "Die Produktion von Gesellschaft":Wenn die Fabrik die Kundschaft produziert

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Der für seine Romane aus der Wirtschaftswelt gefeierte Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler versucht sich an einer Gesellschaftstheorie von allem.

Von Thomas Steinfeld

Am Ende des Buches stellt Ernst-Wilhelm Händler, früher ein Unternehmer, später ein für seine Romane über das Wirtschaftsleben gefeierter Romancier, fünf Typen von Gesellschaft vor. Deren letzte hört auf den schwerverständlichen Namen "Agency-Metaproduktionsgesellschaft". "Keine Missverständnisse", beruhigt der Autor, "die Fabrik, die komplette Fabriken samt Kunden für deren Produkte erzeugt, gibt es noch nicht." Aber Händler scheint solche Verhältnisse zu erwarten. Die Vorläufer einer derartigen Gesellschaft erkennt er im Kunsthandel, vor allem in der New Yorker Galerie Gagosian, der finanziell vermutlich erfolgreichsten Galerie auf der Welt. Ein solches Unternehmen, verkaufe nicht einfach Kunst oder vermarkte Künstler. Es biete vielmehr ein "Spezialuniversum von Kunst" an, indem es alle Kritik außer Kraft setze, eine eigene Wissenschaft schaffe und einen unendlichen Raum von "Intentionen und deren Aktualisierungen" eröffne. Dort begegneten sich dann die Künstler und die Kunden.

Das Buch trägt den Titel "die Produktion der Gesellschaft", was an die Titel der Werke Niklas Luhmanns erinnert. Doch auch wenn Händler zu Beginn erklärt, aus der Produktion gehe kein "Gesamtsinn" hervor, so enthält seine Theorie mehr Geschichtsphilosophie, als der Bielefelder Soziologe je zugelassen hätte. Am Anfang, so der behauptete Gang der Dinge, bestand die Produktion in der Herstellung von bestimmten Dingen. Sie wurden gebraucht, die technischen Mittel waren vorhanden.

Anschlussfähiger ist noch keine Theorie gewesen, abstrakter allerdings auch nicht

Dann aber vermehrten sich, wie Händler meint, die Möglichkeiten der Produktion. Das sich entfaltende Finanzkapital scheint der Produktion den Weg in immer virtuellere Welten gewiesen zu haben, sodass auch die Ökonomie, die Naturwissenschaften und die Philosophie dahin gerieten, wo die Kunst schon immer war, nämlich in das Reich der Möglichkeiten. Am Ende der Theorie Händlers steht, das soll das Beispiel mit der Galerie lehren, die Produktion allein. Es spielt keine Rolle mehr, was hergestellt wird. Diese Produktion ist absolut geworden, souverän und handlungsmächtig ("Agency"), und sie produziert vor allem Produktion ("Meta").

Die "Produktion der Gesellschaft" soll die Theorie dieser Entwicklung sein, und zwar auf eine Weise, die dem Gegenstand, also der universellen Produktion von Möglichkeiten, entspricht: Anschlussfähiger ist noch keine Theorie gewesen, abstrakter, im Sinne von: von aller Erfahrung gelöst, allerdings auch nicht.

Die Folgen sind offensichtlich: Händlers Werk besitzt einen überschaubaren Umfang von knapp 300 Seiten. Aber darin wird an landläufig bekannten Theorien so gut wie alles angesprochen, was Rang und Namen hat: Galileo Galilei, der "folgenreichste Physiker" aller Zeiten, und Stanisław Lem, der "als Schriftsteller keine Berührungsängste mit den Prädikaten gut und böse" hat, Martin Heidegger, der "konkurrenzlos radikal" sein wollte, und selbstverständlich Niklas Luhmann, der eine "nie zynische Abneigung gegen Ethik auf der Objektebene" hegte. Auch vom "letzten Stand der Kosmologie" ist die Rede.

All diese Theorien scheinen unablässig miteinander zu kommunzieren, ohne dass je von etwas Konkretem die Rede wäre. Die Fernsehserie "Battlestar Galactica" kommt vor, als Entwurf einer Theorie der Produktion (von humanoiden Robotern), die DDR, weil dort die "mathematischen Standards grundsätzlich höher" waren, Rihannas Nagellack und ein Teilchenbeschleuniger bei Genf, weil dort die Existenz von Higgs-Bosons experimentell nachgewiesen wurde. Nichts scheint der Theorie der Produktion fremd zu sein.

In "Das Geld spricht" trat das Geld 2019 nicht nur selbst auf, es schuf sich auch die Allegorien seiner selbst, Investoren und Banker

Neun Romane und einen Band mit Erzählungen hat Ernst-Wilhelm Händler in den vergangenen 25 Jahren geschrieben. Sie alle handeln vom Leben mit einer Ökonomie, die man früher "freie Marktwirtschaft" nannte und die heute zunehmend unter ihrem richtigen Namen, nämlich: Kapitalismus, bekannt ist. In "Welt aus Glas", einem Roman aus dem Jahr 2009, ging es um zwei New Yorker Galeristen mit Geldsorgen, in "München" (2016) wurden die teuren Schuhe einer reichen Erbin betrachtet, und in "Das Geld spricht" (2019), dem ambitioniertesten literarischen Werk dieser Serie, trat das Geld nicht nur selbst auf, sondern schuf sich auch die Allegorien seiner selbst, in Gestalt von Investoren und Bankern. "Ich bin Kognition und Emotion", sprach in diesem Buch das Geld, eine Instanz, die allerdings weniger Subjekt war als vielmehr eine ratternde kleine Reflexionsmaschine. Letzteres hat das "Geld" des Romans mit der "Produktion" des Sachbuchs gemein.

Die "Produktion von Gesellschaft" ist der systematische Abschluss des Händlerschen Projekts, die Wirtschaft zu einem literarischen Agenten zu machen: ein Abschluss auch insofern, als die letzten Bezüge zu individueller Wahrnehmung und persönlichen Absichten preisgegeben sind. Das Prinzip "Produktion" soll sich selbst darstellen. Da Entäußerung seine Sache nicht sein kann, artikuliert sie sich in mathematischen Formeln sowie in Sätzen, denen der Inhalt abhanden gekommen zu sein scheint: "Die in der Gegenwart ständig zunehmende gesellschaftliche Differenzierung macht eine Differenzierung der verschiedenen Arten und Funktionen von Komplexität unabdinglich." Es kann wohl nicht anders sein: Eine Theorie, die alles umfassen soll, ist am Ende eine Theorie von nichts.

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