Süddeutsche Zeitung

Edgar Rai: "Ascona":Überschaubare Exzesse

Lesezeit: 3 min

Leichtfüßig oder leichtfertig? Edgar Rais historischer Tatsachenroman "Ascona" über den Bestsellerautor Erich Maria Remarque im Exil.

Von Helmut Mauró

Edgar Rai hat mehr als 20 Romane geschrieben, sechs davon unter dem Pseudonym Moritz Matthies. 1967 ist er im hessischen Hinterland geboren, studierte Musikwissenschaften und Anglistik, lehrt in Berlin kreatives Schreiben und bringt jedes Jahr mindestens ein Buch heraus.

Sein jüngstes heißt "Ascona", es erzählt vom Exil des Schriftstellers Erich Maria Remarque, der mit seinem Weltkriegsroman "Im Westen nichts Neues" der Bestsellerautor der Weimarer Republik war - ein von den Nazis verbissen Verfolgter. SA-Schläger störten die Uraufführung der bereits zensierten Hollywoodverfilmung des Romans, 1931 wurde der Film ganz verboten, Remarques Bücher landeten 1933 auf dem Scheiterhaufen, der Schriftsteller war einen Tag nach Hitlers Amtsantritt in die Schweiz geflohen. In "Ascona" kommt ihm die Autokolonne des neuen Reichskanzlers entgegen, als er die Stadt verlässt. Eine nächtliche Begegnung in eisiger Kälte, er ist nicht sicher, ob wirklich Hitler im Auto saß, als wolle er es nicht wahrhaben. Es war auch nicht seine Idee, so überstürzt aus Berlin zu fliehen, seine Lebensgefährtin hatte ihn gedrängt. Wie sich Katja Mann hellsichtiger zeigte als ihr Thomas, reagiert auch Ruth entschlossener als der zögerliche Remarque.

Keine Probleme an der Grenze, keine Geldsorgen, eigentlich gar keine Sorgen

Für den Erfolgsschriftsteller war es dennoch einfacher zu fliehen als für die meisten Intellektuellen, die auf der Verhaftungsliste standen. Remarque hatte sich schon 1931 eine Villa in der Nähe von Ascona am Lago Maggiore gekauft und seinen Hauptwohnsitz dorthin verlegt: Keine Probleme an der Grenze, keine Geldsorgen, eigentlich gar keine Sorgen. Und dies, das spürt er instinktiv, ist keine gute Voraussetzung für einen Schriftsteller. Jedenfalls nicht für ihn. Für seinen Kollegen und Freund Emil Ludwig vielleicht, den disziplinierten Vielschreiber, oder für die Großintellektuellen, Thomas Mann und Bertolt Brecht, die er verachtet wegen ihres Hochmuts.

Aber für ihn, der nur die Hochmütigen verachtet und im Übrigen in aller Bescheidenheit die Schweizer Idylle lebt, für ihn ist das nichts: "Er musste in Gefahr schweben, wenn er verstehen wollte, worum es ihm beim Schreiben wirklich ging. Vielleicht konnte ihm jetzt Großes gelingen." Und er muss die Gefahr nicht suchen, sie kommt ohne sein Zutun näher, schleicht sich heran mit der wachsenden Zahl prominenter Emigranten, die ihm erschreckend klar machen, dass niemand gefeit ist vor den Verfolgungen, dass es dabei keine Hemmungen und Schamgrenzen gibt, dass immer die ganze Familie in Gefahr ist. Und dass alles rasend schnell geht. Lange vor dem Reichstagsbrand sind die Listen der Gegner erstellt, jeder, der sich irgendwann einmal gegen die Nazis gestellt hat, ist in Lebensgefahr.

Edgar Rais "Ascona" ist aber keine Empörungs- und Aufrüttelpredigt, sondern ein souverän-leichtfüßiger Tatsachenroman. Was im Detail so historisch nicht war, hätte allemal so sein können. Und was die Realität Remarque an Leidenschaft schuldig blieb, hier ist sie Ereignis. Die Nacht mit Marlene und mit Jutta natürlich, der neuen Gefährtin. Aber mitunter verlassen Rai die schriftstellerischen Kräfte, da wird es platt und kleinlich. Während sich Jutta "die Gebärmutter herausschneiden" lässt, "vögelt" Erich Marlene oder träumt davon - allemal überschaubare Exzesse. "Es klopfte. Marlene, bebend vor Leidenschaft. Du süßer Brummbär. Küss mich. Nein, wenn schon, dann ... Und schon lagen sie auf dem Bett, sie über ihm, die köstlichste Kapitulation." Hier muss der Leser ergänzen, was dem Schriftsteller nicht gelang: ein über banale Äußerlichkeiten hinausreichendes psychologisches Szenario, das etwas über den Charakter des Mannes erzählen würde, über seine Visionen, sein Denken, seine verzweifelte Genusssucht.

Aber das Tragische liegt Rai nicht, eher schon die Faszination der Normalität, des Alltäglichen. Hinter dem Gewöhnlichen sucht er die lauernden Dämonen, das Unerwartete, die Gefahr. Aber sie will sich nicht einstellen, nicht einmal auf der scheinbar riskanten Überfahrt nach New York. "Vor der Küste, hieß es, lauerten deutsche U-Boote. Niemand konnte sagen, was morgen sein würde. Oder in einer Stunde. Jetzt aber, hier, in diesem Moment, war er am Leben." Das klingt wie aus einem Roman der Zwanzigerjahre und es wäre natürlich großartig, schlüge der lapidare Ton von der Banalität um in existenzielle Melancholie und Sehnsucht. So wie damals auf der Queen Mary.

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